Zwanghaft positives Denken wird zunehmend hinterfragt

„Good vibes only“ oder „in allem das Gute sehen“: Das klingt nach ermunternden Botschaften. Geraten Menschen in ernsthafte Krisen, stoßen sie jedoch an ihre Grenzen. Fachleute raten dazu, alle Gefühle zuzulassen.

Bei körperlichen Verletzungen ist das Verständnis oft größer als bei psychischen Belastungen. Dass manche winzige Schnitt- oder Schürfwunde nach Wochen noch zu sehen ist, wissen die meisten Menschen aus eigener Erfahrung. Manche Wunden entzünden sich gar, schmerzen oder hinterlassen juckende Narben. Fachleute ziehen immer wieder die Parallele zur Psyche: Dass es dauert und schmerzhaft ist, gehöre auch in diesem Bereich zum Heilungsprozess.

Wichtig sei, der Seele genug Zeit zu lassen, betont Sophie Lauenroth. Das erste Buch der Psychologin, „Du darfst heilen“, erscheint am Mittwoch; als @psychologin_sophie ist sie auf Instagram und TikTok erfolgreich. Für psychische Heilungsprozesse sei es „enorm wichtig, dass man auch schmerzhafte Erinnerungen nochmal gedanklich durchlebt und sich mit den Folgen im Hier und Jetzt auseinandersetzt“. Wie lange dies am Ende dauere, könne niemand vorhersagen – und auch nicht, welche Wege welcher Mensch als besonders hilfreich und erhellend erlebt.

Einig sind sich Fachleute indes darüber, dass sogenannte toxische Positivität eher störend ist. „Im Gegensatz zu einem positiven Mindset geht toxische Positivität in eine zwanghafte Richtung“, erklärt Lauenroth. „Menschen verspüren selbst in belastenden Situationen den Druck, positiv zu denken. Sie ignorieren ihre echten Emotionen.“ Dies betreffe vor allem Gefühle wie Trauer, Wut oder Frustration: „Sie werden unterdrückt oder als unangemessen abgetan.“

Tatsächlich habe jedes Gefühl seine Berechtigung – und sei es wert, dem Ursprung auf den Grund zu gehen, sagt die Expertin. Allerdings herrsche in der Gesellschaft der Wunsch, möglichst komfortabel und schmerzfrei durch das Leben zu kommen. Ob körperliche Symptome wie Magenschmerzen und Nackenverspannungen, ob Schlafstörungen oder hohe Stressbelastung – solche Signale sollten hellhörig machen, rät Lauenroth.

Die Publizisten Judith Werner und Franz Himpsl weisen in ihrem Buch „Danke, nicht gut“ auf weitere Probleme mit der „Rüstung aus Positivity“ hin, die manche Menschen sich insbesondere in den Sozialen Medien anlegen: Sie stehe echter Begegnung im Weg, die meist dann möglich werde, wenn Menschen sich verletzlich zeigen. Auch verweisen die Autoren auf Studien, denen zufolge schon Kinder im Alter von zwei bis vier Jahren ein echtes von einem aufgesetzten Lächeln unterscheiden können.

In flockigem Tonfall schildern Werner und Himpsl fragwürdige Entwicklungen der heutigen Zeit. So ziehen sie Parallelen zwischen der „Cottagecore“-Bewegung und dem Biedermeier. Sei es beim Rückzug in die häusliche Gemütlichkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts darum gegangen, die eigene Welt zu bewahren, hätten sich heute die Vorzeichen umgekehrt: „Die Welt ist schon längst aus den Fugen geraten, und jetzt geht es darum sich vor dieser Welt in Schutzräumen der Einfachheit zu verstecken.“

Chancen sehen Fachleute in der positiven Psychologie, die eben nicht auf den schönen Schein setzt, sondern fragt, wie Menschen gestärkt werden und aufblühen können. Zuversicht und Hoffnung regelrecht einzuüben, bezeichnet etwa der Schweizer Berater Andreas Walker als „christlichen Skill“. Umgekehrt weisen Werner und Himpsl darauf hin, dass auch Religionsvertreter nicht davor gefeit sind, auf unbeholfene Art trösten zu wollen „und zugleich klarzumachen, dass alles doch eben irgendwie gut sei“.

Auf ein „positives Mindset“ setzt auch Lauenroth – und rät, aktiv nach Lebensfreude zu suchen, sich mit Menschen zu umgeben, die einem gut tun oder auch Kraft aus Ruhe und Vergebung zu ziehen. Dass die Sozialen Medien dies mitunter erschweren, bestätigt sie: Als sie mit ihren Videos angefangen habe, hätten sich auf Social Media noch alle „perfekt, wunderschön und reich“ präsentiert. „Dabei muss sich niemand für psychische Probleme schämen.“ Die Aufklärung über psychische Gesundheit auf diesen Kanälen finde sie vor diesem Hintergrund umso wichtiger: „Ich bin froh, dass darüber mehr und mehr Menschen sprechen.“