Zum zweiten Mal reist ein Bundespräsident nach Oradour-sur-Glane

Bis heute steht der Name Oradour-sur-Glane für die Kriegsverbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Die Erinnerung daran bleibt bestehen – neben der bitteren Erkenntnis, dass Oradour kein Einzelfall ist.

“Kriegsverbrechen” und “Kriegsverbrecher” – es gibt Orte, an denen in monströser Klarheit deutlich wird, was diese beiden Worte bedeuten. Oradour-sur-Glane ist ein solcher Ort. Dorthin wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf Einladung seines französischen Amtskollegen Emmanuel Macron reisen, um am 10. Juni an das schlimmste Massaker zu erinnern, dass Deutsche während des Zweiten Weltkriegs im Westen Europas verübten. Was genau passierte damals?

Am 10. Juni 1944, vor 80 Jahren, schien die Sonne über Oradour-sur-Glane. “Punkt 14.00 Uhr rollten Schützenpanzerwagen und Laster an”, erinnert sich Jean-Marcel Darthout an das, was dann geschehen sollte. Schätzungsweise 150 Männer der SS-Division “Das Reich” hatten kurz zuvor den Ort nahe Limoges umstellt und begannen nun damit, die ahnungslosen Einwohner auf dem Marktplatz zusammenzutreiben. Wenige Stunden später waren 643 Zivilisten tot – erschossen oder verbrannt.

Die meisten Männer von Oradour starben unter Gewehrsalven in Scheunen und Garagen, nur eine Handvoll konnte entkommen; mehr als 400 Frauen und Kinder pferchten die Täter in der Kirche ein, lösten dort eine Explosion aus, schossen durch Fenster und Türen in die Menge, warfen Handgranaten hinein und legten schließlich ein Feuer im Innenraum. Marguerite Rouffanche überlebte als einzige. Die meisten SS-Soldaten zogen am Abend ab – nachdem sie das komplette Dorf in Schutt und Asche gelegt hatten.

Jahr für Jahr besuchen rund 300.000 Menschen die Ruinen und das 1999 eröffnete Gedenkzentrum. Mit Joachim Gauck kam 2013 erstmals ein deutscher Bundespräsident an den Ort des Geschehens. Ein Indiz dafür, wie schwer man sich lange mit Gedenken, Aussöhnung und Aufarbeitung tat.

Sehr bald schon wurde das Massaker bekannt, obwohl, wie einer der Täter später aussagte, darüber Stillschweigen bewahrt werden sollte. 1953 begann vor einem Militärgericht in Bordeaux ein Prozess gegen 65 SS-Männer, 21 saßen tatsächlich auf der Anklagebank, darunter 14 Elsässer, von denen 13 in die SS zwangsrekrutiert worden waren. Als die Betreffenden abgeurteilt worden waren, brach im Elsass ein Sturm der Entrüstung los; die französische Regierung knickte ein, erließ eine Amnestie für jene Franzosen, die gegen ihren Willen in der SS gelandet waren.

In Oradour verstanden die Menschen die Welt nicht mehr. “Der Ort brach mit dem französischen Staat und verbot seinen Repräsentanten jegliche Beteiligung an lokalen Gedenkzeremonien”, schreibt die Historikerin Andrea Erkenbrecher, die sich seit Jahren mit dem Massaker und seinen Folgen auseinandersetzt. “Oradour zog sich auf sich und seine Trauer zurück.”

Und Deutschland? In der Bundesrepublik verhinderten politisches Kalkül, juristische Hemmnisse und träge Behörden eine strafrechtliche Verfolgung. Adolf Diekmann, der das für die Tat verantwortliche 1. Bataillon der SS-Division befehligte, fiel am 29. Juni 1944 bei den Kämpfen mit den Alliierten in der Normandie; sein Grab befindet sich auf dem deutschen Soldatenfriedhof in La Cambe. Divisionskommandeur Heinz Lammerding, der nach 1945 erfolgreich eine Karriere als Bauunternehmer startete, starb weitgehend unbehelligt von der deutschen Justiz 1971.

Im gleichen Jahr sammelten sich die “Alten Kameraden” Lammerdings, um den “guten Namen unserer Division” zu verteidigen, die im Krieg “ohne Makel” geblieben sei. Auf deutschem Boden reichte es in all dieser Zeit für ein einziges Urteil: gegen Heinz Barth in der DDR. Der gab während der Verhandlungen 1983 zu Protokoll, wie die SS sich im Nachhinein reinwaschen wollte. Falls überhaupt darüber geredet werden sollte, galt laut Barth die Sprachregelung, wonach es “in diesem Ort einen Widerstand gab”. Nichts davon stimmte.

2011 wurden neue Ermittlungen aufgenommen, 2022 wieder eingestellt: Die Bundesrepublik Deutschland zog niemanden wegen des Massakers strafrechtlich zur Verantwortung. Oradour-sur-Glane ist nicht der einzige Ort, der für Kriegsverbrechen steht. Das Morden und Töten ging und geht auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter, wie das Beispiel Butscha in der Ukraine zeigt. Dort sollen russische Soldaten im Frühjahr 2022 mehr als 400 Zivilisten umgebracht haben.