Zerstörtes Selbstbild

Die gut 2.600 Seiten wiegen schwer in den Händen der amtierenden Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Kirsten Fehrs. Sie hält drei gedruckte Exemplare der Missbrauchsstudie in den Händen, an der ein interdisziplinäres Forscherteam drei Jahre lang gearbeitet hat und die am Donnerstag in Hannover vorgestellt wurde. Fehrs entfährt ein lautloses „puh“.

Nicht nur die Masse der je Exemplar 871 Seiten langen Studie wiegt schwer, auch deren Inhalt. Zuvor hat der Leiter des Forschungsverbunds, Martin Wazlawik, Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Hannover, die zentralen Ergebnisse präsentiert. Neben erstmals bundesweit erhobenen Zahlen zur Häufigkeit von Missbrauch in den 20 evangelischen Landeskirchen und 17 Landesverbänden der Diakonie enthält sie auch Analysen über strukturelle Ursachen.

Die EKD als Dachverband der 20 einzelnen Gliedkirchen, die föderal organisiert sind, hatte die Studie 2020 in Auftrag gegeben und den Forschungsverbund von Wissenschaftlern aus acht Universitäten und Instituten mit einer Zuwendung in Höhe von 3,6 Millionen Euro gefördert. Die Ergebnisse seien erschütternd, sagt Fehrs. Sie bringen das Selbstbild einer Kirche der Geschwisterlichkeit und Nächstenliebe ins Wanken, das Bild einer progressiven und liberalen Kirche, die ihren gesellschaftlichen Auftrag darin sieht, an der Seite der Armen und Schwachen zu stehen.

Das lässt sich in Zahlen benennen, die jedoch nur „die Spitze der Spitze des Eisbergs“ ausmachen, wie es bei der Vorstellung der Studie heißt: Demnach gab es mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 Täter, darunter 511 Pfarrer. Die Zahlen sind auch deswegen nur die „Spitze der Spitze“, weil die Forscher rund um den Mannheimer forensischen Psychiater Harald Dreßing auf die Zuarbeit der Landeskirchen und diakonischen Verbände angewiesen waren. Diese sahen sich mangels Kapazitäten nicht in der Lage, wie ursprünglich vertraglich vereinbart alle Personalakten zu sichten. Dreßing spricht von „schleppender Zuarbeit“. Er hat viel Erfahrung und leitete den Forschungsverbund, der 2018 die katholische Missbrauchsstudie vorlegte.

Um das Projekt nicht zu gefährden, einigte man sich darauf, nur Disziplinarakten zu sichten. In der Studie findet sich daher auch eine „höchst spekulative“ Schätzung, wie hoch die Zahl der Beschuldigten und Betroffenen hätte ausfallen können, wenn die Forschenden umfassende Meldungen erhalten hätten: 9.355 Betroffene und 3.497 Beschuldigte, darunter 1.402 Pfarrpersonen.

Die Studie will aber weit mehr, als valide Zahlen zu liefern: Wazlawik und sein Team benennen konkrete evangelische Spezifika für sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Die föderale Struktur mit den 20 Landeskirchen etwa, mit der interviewte leitende Geistliche auch „kokettierten“, wie Wazlawik formuliert. Eine Führungs- und Leitungskultur, in der Verantwortlichkeit nicht klar erkennbar gewesen sei. Eine reaktive Aufarbeitung, die mangels Transparenz zu weiteren Opfern geführt habe. Das positive Bild der Kirche als sicherer Ort, an dem Gewalt an Kindern als unvorstellbar galt.

Statt einer „idealisierten Selbsterzählung“ lohne ein Blick in die tatsächlich mangelhafte Praxis im Umgang mit Missbrauchsfällen, hieß es. In der Erzählung einer „besseren Kirche“ sei Missbrauch als strukturelles Problem nicht vorstellbar oder schwer zu ertragen. Wazlawik spricht auch von einer Konfliktunfähigkeit, einem „Harmoniezwang“. Das „Milieu der Geschwisterlichkeit“ begünstige den Schutz von Tätern und konfrontiere Betroffene immer wieder mit dem Wunsch nach Vergebung. Wenn Betroffene sich den Wünschen und Vorstellungen der Institution widersetzten, erlebten sie Ausgrenzung und Stigmatisierung, wie die Studie zeigt.

Oftmals hätten beschuldigte Pfarrer ihr Amt zur Anbahnung ausgenutzt, erläutert Wazlawik. Ein unklares Amtsverständnis, das berufliche Aufgaben und private Lebensführung vermische, begünstige Missbrauch.

Für Betroffene hatten der Missbrauch und der institutionelle Umgang damit gravierende gesundheitliche, emotionale und soziale Folgen. Detlev Zander, Sprecher der Betroffenen im Beteiligungsforum in der EKD und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats, spricht bei der Vorstellung der Studie von einem „rabenschwarzen Tag“ für Kirche und Diakonie. Für die Betroffenen aber sei es ein guter Tag. Zander fordert eine übergeordnete Stelle in der EKD, die für die Aufarbeitung zuständig ist und den Landeskirchen verpflichtende Vorgaben machen kann.

Aufseiten der Kirchenleitenden findet sich das Eingeständnis, „bestürzend viel falsch gemacht“ zu haben, wie Fehrs sagt: „Es muss sich sehr, sehr viel verändern, und wir nehmen das an.“