Zentralrats-Vizepräsident Lehrer: Juden wünschen sich Solidarität
Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, beklagt eine fehlende Solidarität mit Juden und Israel seit dem Gaza-Krieg – und warnt vor zunehmendem Antisemitismus.
Vor dem ersten Jahrestag des Hamas-Überfalls auf Israel am 7. Oktober hat der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, mangelnde Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft und Israel beklagt. „Öffentliche Solidarität ist sehr wichtig für uns“, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Politik, große Verbände und Organisationen, der Sport, die Kultur und die Wirtschaft hätten sich zwar sehr eindeutig gegen Antisemitismus und für das Selbstverteidigungsrecht Israels ausgesprochen. „Was aber heute fehlt, ist ein Zeichen der breiten Gesellschaft, wie es das vor Jahrzehnten nach den ausländerfeindlichen Ausschreitungen und Anschlägen in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Solingen gab.“
Damals habe es Lichterketten und Aktionen gegeben, mit denen die breite Gesellschaft der jüdischen Gemeinschaft das Gefühl vermittelt habe: „Wir stehen an eurer Seite.“ „Ein solches Zeichen für die jüdische Gemeinschaft sehen wir heute nicht“, sagte Lehrer. „Das würden wir uns sehr wünschen.“
In den ersten Stunden und Tagen nach dem Überfall der radikalislamischen Hamas hätten Israel und die jüdische Gemeinschaft eine riesige Welle der Empathie, Sympathie und Solidarität erlebt, sagte der Vorsitzende der Synagogen-Gemeinde Köln. Das habe sich aber mit dem Einmarsch der israelischen Armee in den Gaza-Streifen geändert: „Kritik an Israel trat zunehmend in den Vordergrund, auch aufgrund der hohen Opferzahl aufseiten der Zivilbevölkerung in Gaza.“
Juden in Deutschland: angefeindet, gemobbt und gemieden
Jüdische Gemeindemitglieder in Deutschland berichten nach Lehrers Worten, sie würden angefeindet, gemobbt und gemieden, auch Freunde hätten sich von ihnen abgewendet. Schüler würden von arabischstämmigen Unterstützern der Hamas angegriffen und bedroht. Auch neue Erkenntnisse über das Ausmaß von Antisemitismus verunsicherten die jüdische Gemeinschaft und einige fragten sich: „Bin ich hier noch gewollt?“
Pessimistisch zeigte sich Lehrer angesichts der Ausweitung des Krieges auf den Libanon mit Blick auf eine Friedenslösung für den Nahen Osten. Auch das Schicksal der Geiseln, die sich seit einem Jahr in der Gewalt der Hamas befinden, bleibe ungewiss. Viele jüdische Gemeindemitglieder in Deutschland meinten, dass die harte Linie der israelischen Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu das Leben der Geiseln mehr gefährde, „als es sein müsste“. Auch er selbst sehe im Blick auf Netanjahu einiges kritisch, sagte der Zentralrats-Vizepräsident. „Aber wir sind jetzt im Krieg, das ist nicht die Zeit für Aufarbeitung oder gar für Neuwahlen.“
Unrealistisches Kriegsziel Netanjahus, die Hamas zu zerstören
Das von Netanjahu ausgegebene Kriegsziel, die Hamas zu zerstören, hält Lehrer für unrealistisch. „Militärisch kann er die Hamas zwar besiegen“, sagte der Präsident der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Aber im Gaza-Streifen sei die Hamas nach dem Rückzug Israels als Hilfsorganisation gestartet, sie habe die soziale Unterstützung für die Bevölkerung ausgebaut „und dann von heute auf morgen die gesamte Verwaltung übernommen“. Im sozialen Bereich sei sie noch immer sehr präsent und aktiv. „Das kann man nicht alles beseitigen, ohne alles zu zerstören, was man vermutlich braucht, um dort eine vernünftige Verwaltung aufzubauen“, sagte Lehrer.
Hamas-Kämpfer hatten am 7. Oktober 2023 in Israel mehr als 1.200 Menschen getötet und etwa 250 als Geiseln genommen. Israel reagierte mit Krieg gegen die Hamas im Gaza-Streifen, bei dem nach palästinensischen Angaben zehntausende Menschen getötet wurden, und nun auch mit Krieg gegen die mit der Hamas verbündete islamistische Hisbollah-Miliz im Libanon.