Zeitzeuge Jörg Zimmermann über den Genozid 1994 in Ruanda

Anfang der 1990er-Jahre ist Jörg Zimmermann mit seiner Familie für die Vereinte Evangelische Mission VEM nach Ruanda gegangen. Vor 30 Jahren erlebte er in dem zentralafrikanischen Land die Anfänge des Völkermords mit, der zwischen dem 7. April und Mitte Juli 1994 schätzungsweise bis zu einer Million Menschen das Leben kostete. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erinnert sich der Pastor der Christuskirchengemeinde in Neuss und Notfallseelsorger an die Geschehnisse von damals. Sie beschäftigen ihn bis heute.

KNA: Herr Zimmermann, Sie sind im Auftrag der Vereinten Evangelischen Mission mit Ihrer Familie im Sommer 1991 nach Ruanda gegangen. Wie haben Sie die Lage damals wahrgenommen?

Zimmermann: Im Herbst 1990 war es zu ersten Kämpfen zwischen ruandischen Regierungstruppen und den Rebellen der Ruandischen Patriotischen Front gekommen. Unser Eindruck war, dass sich die Situation nach diesem „Oktoberkrieg“ zunächst rasch wieder beruhigt hatte. Die Franzosen haben Ruandas Armee damals stark unterstützt und die Rebellen nach Uganda zurückgetrieben.

KNA: Aber?

Zimmermann: Ich bin 1982 das erste Mal in Ruanda gewesen. Das war damals ein verschlafenes kleines Land mitten in Afrika, hier mal ein Gendarm, da mal ein Kontrollposten. Das hatte sich 1991 massiv verändert. Es gab Ausgangssperren, Panzer fuhren vor dem Präsidentenpalast auf, die Armee wuchs von 5.000 auf bis zu 45.000 Mann an. Waffen kamen zuhauf in das Land, was wiederum immense Auswirkungen auf die Kriminalität hatte. Wir haben förmlich gespürt, dass Druck im Kessel herrschte.

KNA: Frankreich hatte ein Mehrparteiensystem in dem Land installiert – ein geschickter Schachzug?

Zimmermann: Grundsätzlich ist ein Mehrparteiensystem natürlich immer gut als Ausdruck demokratischer Verhältnisse. Aber das fachte Anfang der 1990er-Jahre in Ruanda Chaos und Terror nur weiter an. Die Parteien hatten ihre Jugendorganisationen. Da denken wir in Deutschland an so etwas wie die Junge Union oder die Jusos.

KNA: In Ruanda…

Zimmermann: …waren das Schlägertrupps, die die Leute terrorisierten.

KNA: Wann haben Sie gemerkt, dass die Stimmung zu kippen drohte?

Zimmermann: Eigentlich schon recht früh, Anfang 1992 muss das gewesen sein. Da bin ich zu einem Vortrag von Guy Theunis, einem Ordensmann, gegangen, der für eine katholische Wochenzeitschrift schrieb und sehr gut in politischen Kreisen vernetzt war. Der sagte sinngemäß, die mit der Regierung verbundene Extremisten-Organisation Interahamwe – „Die gemeinsam angreifen“ – säe Angst und Schrecken, während Staatschef Juvenal Habyarimana sich als Vater der Nation inszeniere. Es könne jeden Moment krachen. In dem Moment, als er das sagte, ging in unmittelbarer Nähe eine Granate hoch.

KNA: Ein unheimlicher Zufall.

Zimmermann: Kurze Zeit darauf, im März 1992, gab es in Bugesera ein Massaker mit mehreren hundert Toten – ohne dass es irgendwelche Konsequenzen gegeben hätte. Damals hatte ich wirklich die naive Vorstellung: Da müssen doch Ordnungskräfte eingreifen, da muss die Polizei was machen. Stattdessen geschah: nichts.

KNA: 1994 eskalierte die Gewalt. Schnell kam ausländisches Militär ins Land.

Zimmermann: Die Franzosen stockten ihre Truppen auf, danach kamen die UN-Blauhelme. Das waren anders als die Franzosen keine Elitesoldaten, was man ihnen irgendwie auch angesehen hat. Zwar wussten wir, dass sie lediglich ein sogenanntes Peacekeeping-Mandat hatten, ihre Waffen nur zur Selbstverteidigung gebrauchen durften. Trotzdem waren wir erstmal optimistisch. Aber bald schon haben wir uns gefragt: Wozu seid ihr gut, wenn ihr nur daneben stehen könnt und euch nachher die Haare kratzt und nicht eingreift bei dem, was da passiert ist?

KNA: Ein berüchtigtes Beispiel bot der Abzug der Blauhelme aus der Ecole Technique Officielle ETO, einer Schule der Salesianer, in der Hauptstadt Kigali, am 11. April 1994.

Zimmermann: Auf das Schulgelände flohen in den ersten Tagen der Kämpfe rund 3.000 Menschen, weil dort belgische Blauhelme stationiert waren. Denen wurde dann aber der Befehl zum Abzug gegeben – während sich die Milizen der Interahamwe rund um das Gelände bereit machten, die Flüchtlinge abzuschlachten. Man muss sich das vorstellen: Die UN haben die Leute sehenden Auges ihren Mördern überlassen.

KNA: Sie selbst haben immer wieder in Briefen an Freunde und Förderer der VEM in Deutschland von der Lage in Ruanda berichtet.

Zimmermann: Ich mache mir heute noch den Vorwurf, dass ich nie auf die Idee gekommen bin, meine Rundbriefe mal ungefragt ans Auswärtige Amt zu schicken.

KNA: Warum? Es gab auch einen deutschen Botschafter im Land.

Zimmermann: Dieter Hölscher war nach meiner Wahrnehmung eine absolut schwache Figur und mit der Situation komplett überfordert.

KNA: Sie selbst waren in Kigali in einem Gemeindezentrum aktiv, haben von Sozialarbeit über Seelsorge und administrative Tätigkeiten ein breites Spektrum abgedeckt. Wie ist es 1994 Ihren Mitarbeitern ergangen?

Zimmermann: Von meinen engsten drei Mitarbeitern hat einer überlebt.

KNA: Verliert man in solchen Situationen den Glauben an Gott?

Zimmermann: Ich habe meinen Glauben an Gott nie wirklich verloren. Allerdings kann ich nicht viel anfangen mit so einer zivil-religiösen Vorstellung „Der liebe Gott, der über uns wacht“ oder sowas. Was mir viel näher gerückt ist – und das auch schon in der ganzen Katastrophe selbst – ist die Kreuzestheologie, die Gegenwart Gottes im gekreuzigten Christus.

KNA: Sie haben Gewalt erlebt, unfassbare Gräuel hautnah mitbekommen. Was hat das mit Ihnen und Ihrer Familie gemacht?

Zimmermann: Das hat meine Familie und mich lange beschäftigt. Noch Jahre später bin ich, immer wenn irgendetwas geknallt hat wie ein umgekippter Stapel Bretter auf einer Baustelle, zusammengezuckt. Ruanda bleibt mein Lebensthema. Genau so wie der Kampf gegen Gewalt und Krieg.

KNA: Gab es auch Täter in Ihrer Gemeinde?

Zimmermann: Das ist ein ganz bitterer Punkt. Es hat solche Menschen gegeben. Viele Menschen sind der Propaganda und Desinformation gefolgt. In Ruanda ist der Glaube an Autoritäten sehr stark. Und als von dort der Befehl kam, gegen eine bestimmte Gruppe vorzugehen, wurde das nicht hinterfragt. Zum anderen gab es massive Medienkampagnen zur Desinformation vor allem im Radio, und vor allem durch den Sender Radio-Television Libre des Mille Collines RTLM. Da ist bewusst ein Gefühl der Bedrohung geschürt worden, indem man an die Situation von 1959/60 erinnert hat.

KNA: Was steckte dahinter?

Zimmermann: Damals gab es eine Revolte der Hutu gegen die Herrschaft der Tutsi, in deren Verlauf Tausende Menschen getötet wurden. Nun, so hieß es, stelle sich das Problem wieder. Und die Hutu müssten erneut gegen die Tutsi vorgehen. Das wurde einfach so in den Raum gestellt und radikalisierte insbesondere ärmere Schichten.

KNA: Spielen diese Gegensätze heute noch eine Rolle?

Zimmermann: Offiziell sind die Kategorien Hutu und Tutsi verpönt. Aber mit Blick auf die Geschehnisse vor 30 Jahren wird dann doch vom „Genozid an den Tutsi“ gesprochen. Da sind die alten Begriffe weiter präsent.

KNA: Die Geschichte lehrt, dass Hassreden nicht nur in Ruanda zu furchtbaren Konsequenzen führen.

Zimmermann: Wollen wir mal nicht so tun, als wären wir außen vor. Denken Sie nur an die Nazizeit zurück, wie schnell auch bei uns Menschen zu Kollaborateuren oder Tätern wurden.

KNA: Was machte in Ruanda Menschen zu Tätern?

Zimmermann: Wie andernorts auch gibt es nicht „die“ Täterbiographie. Zu unseren Nachbarn gehörte ein Paar, sie Tutsi, er Hutu. Als die Mörderbanden zu den Beiden kamen, drückten sie dem Mann eine Machete in die Hand, zeigten auf einen Tutsi mit den Worten: Jetzt bist du dran. Dem Mann war klar: Bringt er diesen Menschen nicht um, wird seine Frau getötet. Er hat den Mord begangen, und die Frau hat tatsächlich überlebt. Bei späteren Gerichtsverhandlungen hat niemand diesen Mann beschuldigt, weil alle wussten, unter welchen Umständen er diese furchtbare Tat ausgeführt hat. Aber stellen Sie sich das mal vor.