Zeitkapseln aus der Vergangenheit

Zeitungen, Fotos, Münzen, Predigten: Turmkugeln geben Einblick in längst vergangene Jahrzehnte. In der Kirche St. Antonius in Bodenstein im Harzvorland ist jetzt eine solche Zeitkapsel geöffnet worden – für die Gemeinde ein spannender Moment.

Horst Schmidt, ehemaliges Kirchenvorstandmitglied, und Metallrestaurator Dirk Zeyher aus Hildesheim (von links nach rechts) präsentieren im Garten der St. Antonius-Kirche in Bodenstein die Zeitzeugnisse aus der ​Turmkugel.
Horst Schmidt, ehemaliges Kirchenvorstandmitglied, und Metallrestaurator Dirk Zeyher aus Hildesheim (von links nach rechts) präsentieren im Garten der St. Antonius-Kirche in Bodenstein die Zeitzeugnisse aus der Turmkugel.epd-bild / Harald Koch

Goslar. Die Spannung steigt an diesem sonnigen Nachmittag in der kleinen Ortschaft Bodenstein in der Gemeinde Wallmoden zwischen Hildesheim und Goslar. Im Garten der Kirche St. Antonius haben sich etwa 20 Gemeindemitglieder versammelt, um den großen Moment nicht zu verpassen: Die Turmkugel ihrer Kirche wird geöffnet. Alle warten gespannt, was die sogenannte Zeitkapsel im Inneren enthalten mag. Zeitungen, Gemeindebriefe, alte Dokumente? Womöglich etwas Überraschendes?

Anlass für die Öffnung von Turmkugeln sind in der Regel Sanierungen und Baumaßnahmen. So auch in Bodenstein. Das Dach der St. Antonius-Kirche wird erneuert. Vorsichtig lässt Restaurator und Metallbildner Dirk Zeyher aus Hildesheim die Turmkonstruktion herab. Für ihn eine Tätigkeit, die zur Tagesordnung gehört und dennoch ihren Zauber nicht verloren hat. „Die Kirchturmspitze symbolisiert den Übergang vom Irdischen zum Himmelreich“, sagt der Metalldesigner.

Zeitzeugnisse für die Nachkommen

Turmkugeln, auch Turmknäufe oder Turmknöpfe genannt, gibt es nicht nur an Kirchen, sondern auch an vielen weiteren historischen Gebäuden, wie Rathäusern, Schlössern, Villen, Stadttoren und alten Kliniken. Aufgrund ihrer schwierigen Erreichbarkeit gelten die prächtigen Kugeln als sichere Aufbewahrungsorte und werden häufig befüllt – mit Zeitzeugnissen und Nachrichten für kommende Generationen. „Ich hatte auch schon mal einen Zettel dabei, auf dem notiert war, was ein Glas Bier und ein Stück Butter zu jener Zeit kosteten“, sagt Zeyher.

Die Turmspitzen bestehen in der Regel aus einem Metallmast, der mit einem aus dem Dachstuhl ragenden Holzstreben, dem sogenannten Kaiserstiel, verbunden ist. An die Metallkonstruktion reiht sich der Dachschmuck. In der Bodensteiner Kirche, die zur Gemeinde St. Jakobus im Ambergau (Landeskirche Braunschweig) gehört, sind es eine Wetterfahne und Turmkugel. Andere Kirchen schmücken sich darüber hinaus mit vergoldeten Kreuzen, Wetterhähnen und weiteren Ornamenten.

Welche Botschaft steckt in Kirchturmkugel der St. Antonius-Kirche?

Die Bodensteiner Kirchturmkugel, einst aus glänzendem Messing, ist inzwischen mit einer dicken, fleckigen Schicht Grünspan bedeckt. Sie liegt auf einem Tisch im Kirchgarten. Die Spannung steigt. Keiner weiß, wann die Turmkugel befüllt wurde. Wie alt mögen die Zeitzeugnisse sein? „Ich war noch nie bei so etwas dabei“, sagt Pfarrerin Christina Bosse, „das ist ein beeindruckender Moment.“

Fachmännisch öffnet Zeyher die verlötete Kugel und zieht eine Klarsichtfolie hervor. In ihr steckt ein Gemeindebrief, ein Schreiben des Kirchenvorstands, eine sorgfältig gefaltete Ausgabe des „Seesener Beobachters“ – vom 24. März 1988. Die Überschrift der Zeitung, die der junge Restaurator hochhält, sorgt für Schmunzeln. „Kohl ist nicht amtsmüde und will nicht zurücktreten“ lautet die Schlagzeile auf dem Titel.

Restaurierte Turmkugel erhält neue Botschaft

Pfarrerin Bosse weiß, womit sie die restaurierte Turmkugel neu befüllen wird. Es gebe eine Empfehlung der Landeskirche Braunschweig zum Befüllen der Zeitkapseln, sagt sie. Eine aktuelle Tageszeitung werde sie in die Hülse stecken, einen Satz alte Münzen, ein Foto eines Kindergottesdienstes sowie einen Bericht über die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation.

Ihre Gedanken zu letzterem hat die Pfarrerin bereits zu Papier gebracht. „Corona kommt darin natürlich vor“, sagt sie – und man fragt sich unweigerlich, wem dieses Papier in welchem Jahr wohl in die Hände fallen und was der weltweite Ausbruch der Pandemie den Menschen dann bedeuten wird.