Die Silvesternacht 2015/16 erschütterte ganz Deutschland. Vor allem junge Migranten wurden damals zu Tätern. Was das zehn Jahre später für Debatten um Integration und Abschiebungen bedeutet.
In der Silvesternacht 2015/16 sind in Köln Hunderte Frauen Opfer von sexuellen Übergriffen geworden. Unter den Beschuldigten waren viele junge Männer aus Nordafrika und aus Fluchtländern wie Syrien und Afghanistan. Der Rechtswissenschaftler Christian Walburg von der Universität Münster beschäftigt sich mit den Zusammenhängen von Kriminalität und Migration. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erklärt er, warum Geflüchtete statistisch häufiger an schweren Sexualdelikten beteiligt sind und warum Kinder von Zugewanderten ein höheres Risiko für Straffälligkeit haben.
Frage: Herr Walburg, die “Kölner Silvesternacht” steht zehn Jahre später für viele Menschen immer noch beispielhaft für den vergewaltigenden Fremden. Ist an diesem Bild etwas dran?
Antwort: Man muss da genau differenzieren. Die meisten Migranten fallen mit so etwas nicht auf. Allerdings ist die Gruppe der sogenannten Zuwanderer an schweren Sexualdelikten überproportional beteiligt. Zuwanderer meint in der Kriminalstatistik Asylantragsteller, anerkannte Flüchtlinge, Geduldete und Menschen, die illegal im Land leben. An den schweren Sexualdelikten und Straftaten im öffentlichen Raum sind sie zu etwa 10 bis 15 Prozent beteiligt. Dabei stellen sie nur etwa 3 bis 4 Prozent der Bevölkerung. Umgekehrt muss man aber auch sagen: Es geht hier um einen kleinen Teil der Geflüchteten.
Frage: Wie kann man das erklären?
Antwort: Aus Opferbefragungen wissen wir, dass gerade Sexualstraftaten relativ selten angezeigt werden. Der deutlich größere Teil dieser Taten wird im sozialen Nahbereich begangen, also durch Menschen aus dem Familien- und Bekanntenkreis. Was Taten im öffentlichen Raum angeht, wissen wir, dass Gewalt- und Sexualdelikte in der Gruppe der jungen Männer zwischen 15 und 25 am häufigsten begangen werden. 2015 hatten wir unter den Geflüchteten einen hohen Anteil an jungen Männern. Die soziodemografische Zusammensetzung der Gruppe ist ein Teil der Erklärung, aber nicht der einzige.
Frage: Was spielt noch mit hinein?
Antwort: Vereinfacht kann man sagen, Kriminalität ist das Ergebnis aus der bisherigen Lebensgeschichte und den aktuellen Lebensumständen. Geflüchtete sind oft weniger gut sozial eingebunden, haben kein stützendes Netzwerk, keine Familie. Allein mit jungen Männern in einem fremden Land unterwegs zu sein, keine feste Tagesstruktur zu haben, nicht in Arbeit zu sein – solche Umstände begünstigen Kriminalität und Gewalt. Aber: Nicht jeder wird unter diesen Umständen kriminell. Es hängt auch von der Person und deren Prägungen ab. Da bringt ein Teil der Geflüchteten eine Gewaltdisposition mit. Traumatisierungen, frühere Gewalterfahrungen und traditionelle Männlichkeitsnormen stellen Risikofaktoren dar.
Frage: Wie soll man umgehen mit jungen Männern, die diese Risikofaktoren mitbringen? Wären mehr Abweisungen an den Grenzen eine Lösung?
Antwort: Migrationsprozesse lassen sich nicht zu hundert Prozent steuern. Ich wäre aber schon dafür, dass man auch aus einer Schutzverantwortung heraus frühzeitig versucht, Migration besser zu organisieren. 2012/13 hat Deutschland lange weggesehen. Damals wurden in den Flüchtlingslagern um Syrien die Mittel gekürzt, und die Situation wurde zunehmend perspektivlos. Dann haben sich die Menschen auf den Weg nach Europa gemacht, bis sie bei uns vor der Tür standen. Sich frühzeitig und international abgestimmt um diese Menschen zu kümmern, die ja definitiv Schutz brauchten – das wäre richtig gewesen.
Frage: Wären Abschiebungen ein geeignetes Mittel, um abzuschrecken und Straftaten zu verhindern?
Antwort: In der Tat kann es Menschen von der Begehung von Straftaten abhalten, wenn sie Sanktionen befürchten müssen – allerdings nicht in jedem Fall. Voraussetzung wäre, dass sie ernsthaft darüber nachdenken und eine Art Kosten-Nutzen-Abwägung treffen. Gewaltdelikte werden aber häufig impulsiv und aus dem Affekt heraus begangen, da wird nicht viel abgewogen. Abschiebungen sind in der Praxis außerdem äußerst aufwendig und kompliziert. Und Menschenwürde gilt für alle, weshalb sich Abschiebungen in Folter und Tod verbieten.
Frage: Was wären denn sinnvolle vorbeugende Maßnahmen?
Antwort: Geflüchtete müssen möglichst schnell und gut sozial eingebunden werden. Sie brauchen Kontakte zur Aufnahmegesellschaft, Arbeit, eine Tagesstruktur. Wir müssen vermeiden, dass junge Männer lange in Sammelunterkünften am Rande der Gesellschaft leben, ohne etwas zu tun zu haben, so dass sie sich vermehrt in den Innenstädten aufhalten und auf blöde Gedanken kommen.
Der andere Punkt ist psychosoziale Betreuung. Wer bringt welche Belastung mit? Diese Menschen müssen wir versorgen. Schließlich geht es – Stichwort Männlichkeitsbilder – um die Frage der Wertevermittlung. Die müsste kontinuierlich erfolgen. Wichtig ist auch die Arbeit in Kitas und Schulen, gerade was die zweite Generation angeht. Da haben wir die kriminologische Erfahrung, dass diese Gruppe höhere Risiken aufweist als einheimische Kinder und Jugendliche.
Frage: Da kommt also noch ein Problem auf uns zu?
Antwort: Das könnte sein. Die jungen Männer, die 2015/16 kamen, sind mittlerweile älter geworden. Nach der Alters-Kriminalitäts-Kurve wachsen sich viele Risiken sozusagen aus. Aber schauen wir einmal auf die Kinder, die hier aufwachsen und deren Eltern neu im Land sind. Wenn die Eltern noch nicht so gut eingebunden sind und vielleicht auch eine größere kulturelle Distanz haben, dann haben diese Kinder schwierigere Startbedingungen als einheimische Kinder. Man darf nicht pauschalisieren, aber das Risiko für Straffälligkeit ist schon etwas höher. Darum muss man sich kümmern. Das ist übrigens auch wichtig mit Blick auf ukrainische Geflüchtete, wo viele Kinder mitgekommen sind.
Frage: Was kann der Staat tun?
Antwort: Kitas und Schulen sind die Institutionen, in denen man die Kinder fördern, eine Bindung an die Gesellschaft schaffen und Perspektiven geben kann. Da sind wir schon erfahrener als in den 1980er Jahren, als man die Gastarbeiterkinder in Sonderklassen gesteckt hat, weil man dachte, dass sie eh wieder nach Hause gehen. Den Fehler machen wir heute so nicht mehr. Wir stoßen aber auch an Grenzen, weil wir Erzieher- und Lehrkräftemangel haben. Zudem wird es schwieriger, das einzelne Kind gut zu fördern, wenn viele hilfsbedürftige Kinder in einer Klasse sind.
Frage: Im Zuge der “Kölner Silvesternacht” gab es rund 1.200 Anzeigen und nur etwa 30 Verurteilungen. Ist das ein Armutszeugnis für den Rechtsstaat?
Antwort: Man würde es sich zu einfach machen, wenn man die besonderen Umstände dieser Nacht ausblendete. In einem Rechtsstaat muss man dem Einzelnen nachweisen, dass und wie er beteiligt war. Und das ist mitten in der Nacht aus einer anonymen Masse heraus äußerst schwierig. Eine geringe Verurteilungsquote gibt es bei anderen Formen von Gewalt auch – und vor allem bei Sexualdelikten. Was die “Kölner Silvesternacht” angeht, ist das natürlich besonders betrüblich, weil es so ein gravierender Vorfall war.