Jede Diskriminierung, darüber sind sich zumindest liberale Demokraten weitestgehend einig, ist eine zu viel. Aber gleich zwei, drei oder mehr, mitunter konzentriert auf einzelne Personen? Wie schwer erträglich das sein muss, haben hiesige Fiktionen jahrzehntelang beharrlich ausgeschwiegen. Falls Filmcharaktere darin – was selten genug vorkam – nicht der bürgerlichen Moral entsprachen, besaßen sie daher bestenfalls ein einziges außergewöhnliches Merkmal. Männer zum Beispiel waren dann schwarz. Oder schwul. Oder ostdeutsch. Oder queer. Aber praktisch niemals alles auf einmal. Wie Emm.
Der 19-Jährige aus dem kleinen Spremberg zieht ins große Berlin, um Tänzer zu werden. Dass ihm die Passagiere des vollbesetzten Reisebusses beim Ausstieg stehend applaudieren, ist zwar ein illusorisch toleranter Auftakt der Selbstermächtigungsserie „House of Bellevue“. Er macht allerdings von Beginn an klar, worum es dem ZDF geht: Die Sichtbarkeit von Menschen mit mehr als einem Diskriminierungsmerkmal, intersektional genannt. Der bisexuelle Brandenburger mit afrikanischem Vater und Faible für feminine Fummel hält sie schließlich – wie im öffentlich-rechtlichen Unterhaltungsprogramm lange Zeit die Regel – nicht unter Verschluss. Emm präsentiert sich auf offener Bühne eines Berliner Ballrooms.

So hießen im New York der frühen Siebzigerjahre geschlossene Veranstaltungen, auf denen Homosexuelle mit dem berühmt-berüchtigten Migrationshintergrund ihre Anders-, besser: Einzigartigkeit feierten. Und das taten sie mit einem betont exaltierten Discostil namens Voguing, den ZDF-Hauptautor Kai S. Pieck ins Zentrum seiner sechsteiligen Milieustudie stellt. Die (ebenfalls schwarze) Choreographin Lia (Nora Henes) veranstaltet hier jedes Wochenende ihren „Afrofuturistic Kiki Ball“, bei dem Gleichgesinnte mit- und gegeneinander tanzen.
ZDF-Serie “House of Bellevue”: Ballroom, rasend schön
Kurz nach einer frustrierenden Zimmerbesichtigung nimmt auch das unerfahrene, aber talentierte Landei Emm daran teil. Es scheitert zwar an der strengen Jury, gewinnt statt des erhofften Siegerpokals allerdings Freunde hinzu. Lia zum Beispiel, die Emm einen der heiß begehrten Plätze in ihrem Voguing-Kurs verschafft. Dazu kommen der angehende Modedesigner Djamal (Abed Haddad), in dessen WG Emm unterkommt, sowie Mohammed (Kawian Paigal), ein rasend schöner Ballroom-Star, der wegen seiner Homosexualität aus dem Irak geflohen ist. Spätestens hier öffnet das „House of Bellevue“ eine Tür hinter die Kulissen seiner knallbunten Partykulisse. Denn dort hält sich Piecks Writers Room im Grunde bloß nach Feierabend auf.
Unter der glitzernden Oberfläche verhandeln Lias Tänzerinnen und Tänzer höchst alltägliche Sorgen und Nöte, die keinesfalls nur mit Herkunft, Hautfarbe oder Identität zu tun haben. Mo hat ein veritables Drogenproblem. Djamal hängt seit Monaten in den Startlöchern seiner Abschlussarbeit fest und sucht verzweifelt nach Mr. Perfect. Lia erweist sich als Karrieristin, die ihren Ballroom auch gegen den Willen der deutschen Ikone Mother Calista (Florence Kasumba) kommerzialisieren will. Und dann wäre da noch Emm selbst.
Menschen sind Menschen
Denn der ist etwas, das bis Ende 2024 für intersektional Diskriminierte am Bildschirm nahezu ausgeschlossen war: unzuverlässig, anstrengend und oft egoistisch. Wie Lalo also – eine schwule Person of Color, die sich der preisgekrönte Autor Lamin Leroy Gibba voriges Jahr auf den eigenen Schauspielerleib geschrieben hatte. „Schwarze Früchte“ war damals die erste nennenswerte Fiktion mit zwei intersektional diskriminierten Hauptfiguren ohne Anspruch auf bedingungslose Solidarität. Man merkt „House of Bellevue“ daher an, dass Gibba auch hier an den Drehbüchern mitgearbeitet und sein Genre damit entscheidend fortentwickelt hat.

Denn anders als deutsche Diversitätsfiktionen wie „All You Need“ oder „Loving her“ – von eskapistischer Hollywoodware wie „Queer as Folk“ oder „The L-Word“ ganz zu schweigen – nähern sich diese zwei Formate der Realität dessen, was unter LGBTQIA+ firmiert, weiter an. Menschen sind Menschen, lautet der Subtext solcher Erzählungen. Einerlei, welcher sexuellen Identität sie zuneigen. Einerlei, wie mitgefühlswürdig sie sind. Einerlei, womit man sie noch herabwürdigen kann. Solche Menschen können wie Lia gar schwarze Töchter erfolgreicher Architekten sein und auch sonst manch ein Klischee widerlegen.
Solche Leistungen machen es auch erträglich, dass bei Kai S. Piecks Dialogen manchmal hörbar das Drehbuchpapier raschelt und sein permanentes Berlin German aus einer endlosen Aneinanderreihung englischer Worte im Deutschen („du performst noch zu viel, express yourself“) beim Zuhören nervöse Hautreizungen hervorruft. Nicht alles an dieser ambitionierten Neo-Serie ist gelungen. Aber fast alles sorgt dafür, dass Individuen abseits bürgerlicher Moralvorstellungen als das sichtbar werden, was sie nun mal sind: auf außergewöhnliche Art und Weise ziemlich normal.
ZDFneo zeigt alle Episoden von “House of Bellevue” am Dienstag, 2. Dezember, ab 21.45 Uhr. In der ZDF-Mediathek sind sie ab Freitag, 28. November, verfügbar.
