Nach Grundsatzurteil: Unerwartet mehr Abtreibungen in den USA

Schwangerschaftsabbrüche in den USA sind nach einem Urteil des Obersten Gerichts mehr geworden. In Bundesstaaten mit strikten Verboten ging sie zurück, erhöhte sich andernorts aber überproportional.

Wie sich die Bilder gleichen: Schon 1989 demonstrierten Frauen vor dem Obersten US-Gericht
Wie sich die Bilder gleichen: Schon 1989 demonstrierten Frauen vor dem Obersten US-GerichtImago / Zuma Wire

Damit hatte kaum jemand gerechnet. Seit in den USA wieder die einzelnen Bundesstaaten für die Abtreibungsregeln zuständig sind, ist die Zahl der monatlich im Durchschnitt vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche nicht gesunken. Viele Beobachter waren davon ausgegangen, dass der Wert nach Aufhebung des jahrzehntelang gültigen liberalen Grundsatzurteils „Roe v. Wade“ zurückgehen würde. Stattdessen ist er in den zwölf Monaten nach der Entscheidung des Obersten Gerichts leicht gestiegen. Drastisch verändert hat sich indes die Verteilung. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Auswertung der Organisation Society of Family Planning.

Demnach wurden vor Juni 2022 pro Monat 82.115 Abtreibungen in den USA vorgenommen. Im Jahr nach dem Ende von „Roe v. Wade“ waren es 82.298. Das gesammelte Datenmaterial beinhaltet den Angaben zufolge sowohl konventionelle als auch medikamentöse Eingriffe. Auf den ersten Blick hat sich also nicht viel verändert. Die Zahlen zeigen jedoch große Verschiebungen zwischen Bundesstaaten mit strikten Regeln und jenen, die Frauen einen straffreien Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen garantieren wollen.

Zunehmende Ungleichheit beim Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen

In den Staaten, in denen Verbote oder eine Sechswochenfrist erlassen wurden, gab es in den zwölf Monaten nach dem Gerichtsurteil fast 115.000 Abtreibungen weniger als erwartet. In manchen fiel der Wert fast auf Null. Dies wurde jedoch durch eine Zunahme um rund 117.000 Fälle in den liberalen Staaten mehr als kompensiert.

Die Ökonomin und Abtreibungsexpertin Caitlin Myers vom Middlebury College in Vermont interpretiert die Entwicklung in der New York Times als Indikator für eine zunehmende Ungleichheit beim Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen: „Ob jemand, der abtreiben will, dies auch tatsächlich tun kann, hängt mehr denn je davon ab, wo er lebt.“

Immer wieder demonstrieren Abtreibungsgegner vor dem Obersten Gericht in Washington (Archiv)
Immer wieder demonstrieren Abtreibungsgegner vor dem Obersten Gericht in Washington (Archiv)Imago / UPI Photo

Die Verbote treffen nach Ansicht von Alison Norris, Wissenschaftlerin der Ohio State University, in erster Linie Arme, Teenager oder Migranten, die sich eine kostspielige Reise in einen anderen Staat nicht leisten könnten. Für diese Personengruppe sei der Verlust des straffreien Zugangs tiefgreifend.

Besonders hoher Anstieg in New Mexico

Auffällig ist zudem, dass die Zahl legaler Abtreibungen hauptsächlich in den Bundesstaaten zunimmt, die direkt an Staaten mit einem Verbot grenzen. Das mit Texas benachbarte New Mexico etwa verzeichnete nach dem Supreme-Court-Urteil einen Anstieg um mehr als 60 Prozent. Illinois, das gleich von mehreren Staaten mit restriktiver Gesetzgebung umgeben ist, verzeichnete 33 Prozent mehr Fälle.

Dass Abtreibungen trotz verschärfter Gesetze in mehreren Bundesstaaten nicht zurückgingen, hat nicht zuletzt mit der sogenannten Abtreibungspille zu tun. Spezialisierte Kliniken sind verstärkt dazu übergegangen, sie mittels telemedizinischer Konsultation zu verschreiben. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hatte schon Ende 2021 den Versand des Präparats Mifepriston ohne vorherigen Arztbesuch dauerhaft erlaubt.

Mehrere demokratisch regierte Bundesstaaten verabschiedeten zudem im vergangenen Jahr Gesetze, um den Versand der Pillen sicherzustellen. Anbieter seien so weitgehend geschützt, meinen Rechtsexperten – solange sie in dem Staat tätig sind, in dem entsprechende Regelungen gelten. Das trifft beispielsweise nicht auf Texas zu. Dort drohen für das Verschicken der Pillen mehrjährige Haftstrafen.