„Wo wir als Kirche Ungeimpfte ausgegrenzt haben, sind wir schuldig geworden“

Muss Kirche noch über Corona reden? Sie muss, findet Tilman Jeremias, Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern. Denn der Streit um die Maßnahmen habe im Osten tiefe Verletzungen hinterlassen.

Zum Debatteneinstieg erzählen fünf Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern von ihren Erfahrungen zu Corona-Zeiten, darunter die Ribnitzer Pastorin Susanne Attula (ganz links).
Zum Debatteneinstieg erzählen fünf Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern von ihren Erfahrungen zu Corona-Zeiten, darunter die Ribnitzer Pastorin Susanne Attula (ganz links).Annette Klinkhardt

Am Ende der Debatte spricht Tilman Jeremias, Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern, klare Worte ins Mikrofon. „Da, wo wir als Kirche Menschen ausgegrenzt haben, sind wir schuldig geworden“, formuliert er bezogen auf Menschen, die die Corona-Maßnahmen kritisierten oder sich nicht impfen ließen. Die christliche Kirche sei kein Gesinnungsverein, in dem alle gleicher Meinung sein müssten. „Wir sind eine Gemeinschaft von Menschen, die sehr verschieden sind“, sagt er. Schon die ersten Christen hätten heftig um Positionen gerungen. Trotzdem beisammen zu bleiben – darauf komme es an.

Applaus brandet auf. Gut eineinhalb Stunden lang haben fünf Podiumsgäste und über 90 Besuchende auf Einladung des Bischofs diskutiert, in Salem in Mecklenburg-Vorpommern (MV), im Nordosten der Republik. Thema: „Kirche und Corona – was bleibt?“

Pastoren und Pastorinnen aus MV sind gekommen, Kirchenälteste, Gemeindepädagoginnen, Seelsorgende, Studenten… darunter einige, die sinngemäß die Position vertreten: Als Kirche, als Gemeinde haben wir alles möglich gemacht, was möglich war in Corona-Zeiten, die Beschlüsse der Regierung waren begründet und von der Mehrheit gestützt. Aber auch viele, die die Linie der Regierung und der Nordkirche kritisch sahen und Maßnahmen hinterfragten.

Vor der Debatte feierten alle zusammen Gottesdienst.
Vor der Debatte feierten alle zusammen Gottesdienst.Sybille Marx

Auf dem Podium sitzt etwa Pastor Michael Giebel aus der Kleinstadt Altentreptow bei Neubrandenburg. Neben manch guten Erfahrungen aus der Corona-Zeit will er im Saal seine „Tiefpunkte“ teilen. „Ungeimpfte wurden als Verräter an der Nächstenliebe gebrandmarkt“, sagt Giebel mit ruhiger Stimme. Man habe sie allesamt als verantwortungslos hingestellt, auch wenn sie vielleicht vorsichtiger agierten als Geimpfte, die das Virus ebenfalls verbreiten konnten. „Und man hat sie pauschal in die rechte Ecke geschoben.“ Aufgearbeitet habe seine Gemeinde die entstandenen Verletzungen nicht, das habe aber auch niemand gefordert. „Wir knüpfen an die Zeit davor an.“

Während Giebel so klingt, als habe er damit seinen Frieden gemacht, schwingt in Marcus Wenzels Stimme Wut und Schmerz mit. Wenzel ist Pastor der Mariengemeinde in Waren an der Müritz, hat zu Corona-Zeiten einen offenen Brief an den Bundespräsidenten geschickt – mit der Bitte, das Infektionsschutzgesetz zu stoppen – und die Sanitzer Thesen mitverfasst: Thesen, die der Kirche im Stil der Barmer Theologischen Erklärung unter anderem vorwerfen, die Maßnahmen unreflektiert übernommen, dem Schüren der Ängste nicht widersprochen und die Verletzung der Menschenwürde hingenommen zu haben. Auch umstrittene Zahlen zu Impftoten werden in dem Manifest genannt. „Wir wollten eine theologische Diskussion anstoßen“, erklärt Wenzel. Die Leitenden hätten aber nicht geantwortet. „Als Impfkritiker musste ich mir auch sagen lassen, ich sei verantwortungslos, ein Sozialparasit, kein guter Christ… man hat eineinhalbe Jahre lang meine Würde mit Füßen getreten“, findet er. Bis heute geht durch seine Kirchengemeinde ein tiefer Riss.

„Warum habt Ihr als Kirche dazu geschwiegen?“

Dagegen schildert Barbara Niehaus aus Bad Doberan, wie sie und ihre Mitstreiter im preisgekrönten sozialdiakonischen Projekt „Treffpunkt Suppenküche“ immer neue pragmatische Lösungen gefunden hätten – um nicht in die Rolle zu kommen, als Kirche Ungeimpfte bei der Essensausgabe kontrollieren oder ausgrenzen zu müssen. „Wann immer das nötig gewesen wäre, haben wir die Rahmenbedingungen verändert“, erzählt sie. Pastor Christian Ohms Schilderungen zufolge ist es auch den Gemeinden im Norden Rügens gelungen, im Alltag praktikable Lösungen für alle zu finden. „Wir haben versucht, die ideologischen Fragen – impfen oder nicht impfen – an die Seite zu stellen.“

Mancher Schmerz aber klingt nach, nicht nur im Blick auf die Impfungen. Warum habe die Kirche das Abendmahl zu Corona-Zeiten so leichtfertig aufgegeben, fragt Pastor Matthias Jehsert aus Retzin. „Ich erlebe gerade in Grenzsituationen, wie entlastend Sakramente sein können“, sagt er. Weil sie daran erinnerten, dass es letztlich nicht auf menschliches Handeln ankomme, sondern auf Gottes. Pastor Leif Rother beschäftigt es als Seelsorger in fünf Krankenhäusern der Müritz-Region bis heute, wie Menschen sich von ihren sterbenden Angehörigen nicht verabschieden durften, weil strengste Maßnahmen bis in Hospize und Palliativstationen umgesetzt wurden. „Warum habt Ihr dazu als Kirche geschwiegen?“, fragt er. Elementare Persönlichkeitsrechte der Menschen seien verletzt worden, und die Kirche habe keine Räume geboten, um sachliche Argumente breit zu diskutieren. Es brauche wieder eine Diskussionskultur wie zu Wendezeiten.

Ähnliches fordert der Greifswalder Physiker und Kirchenälteste Steffen Franke, dreifach geimpft. „Es waren einzelne Wissenschaftler, die den Weg bestimmt und als alternativlos vorgegeben haben“, kritisiert er. Nicht nur Mediziner, sondern Wissenschaftler vieler weiterer Disziplinen hätten den Kurs mitbestimmen müssen. Auch heute werde zu schmal diskutiert. „Wenn jemand ein Argument bringt, wird sofort geguckt: In welches Lager gehört der?“ Zählen müssten Argumente.

Karl-Georg Ohse, Leiter des Projekts „Kirche stärkt Demokratie“, erinnert: Zumindest einzelne Debatten-Angebote im Raum der Kirche gab es, etwa das Nikolaiquartett in Rostock. „Gerade von Seiten der Corona-Skeptiker kamen aber die immerselben demokratiefeindlichen Parolen.“

Am Ende herrscht Dankbarkeit für den friedlichen Austausch

Viele weitere Männer und Frauen treten im Laufe der eineinhalb Stunden ans Mikrophon, schildern ihre Perspektive, fast alle in ruhigem Tonfall. Sichtbar werden auch Dilemmata der Leitenden: etwa, Entscheidungen treffen zu müssen, die den einen recht zu geben scheinen – während man einzelne Argumente anderer vielleicht teilt. „Eine eigene Meinung zu haben, heißt auch nicht, dass ich sie in einer Leitungsfunktion zur allgemeinen Maxime machen kann“, erklärt Pastor Wulf Schünemann, der zu Corona-Zeiten als Propst im Amt war.

Am Schluss macht sich Dankbarkeit für die offene friedliche Debatte breit. Auch Bischof Jeremias sagt: „Ich bin nach diesem Vormittag tief dankbar.“ Anders als in den westlichen Landeskirchen, wo zu Corona-Zeiten weitgehend Einigkeit herrschte, hätten die Kirchen im Osten heftige Differenzen erlebt: „Der Streit um die Maßnahmen und die Impfung hat uns als Kirche vor eine Zerreißprobe gestellt.“ Kirche habe die Aufgabe, Gesprächsräume zu eröffnen. „So sollten wir weiter unterwegs sein.“