Wo bleibt der Engel?

Der Predigttext zum Sonntag Judika lautet: "Und die beiden gingen miteinander." aus 1. Mose 22, 1-14
Isaak, du Lachen Gottes, du Stern am Nachthimmel deines Vaters, du gestillte Sehnsucht deiner Mutter: Lass mich ein Stück mit dir gehen, diesen schweren, düsteren Weg. Nimm mich mit und erzähl mir von dir. Ich will nicht länger wegschauen, ich will an deiner Seite sein.
Warum, fragst du. Wohin? Wie ist es möglich? Wo fing das an? Dein Blick geht nach unten, deine Seele flatternd in Angst. Deine Hände gebunden. Du ahnst nicht, wozu Menschen in der Lage sind. Im Namen der Ehre. Des Gehorsams. Im Namen des Erfolgs. Der Macht. Oder Gottes. Sag, wie hältst du das aus?

Mit uns dein Vater, die Knechte, der Esel. Drei Tage Weg. Wir gehen gemeinsam. Bergauf. Schwere Schritte sind das. Ich bleibe dran. Ich denke an die vielen Kinder, die deinen Weg gegangen sind und die es immer noch tun. Geschlagen. Geopfert. Missbraucht. Dem Bösen schutzlos übergeben. Vergessen. Straßenkinder, Prostituierte, Soldaten, Flüchtende, Arbeitskräfte. Kinder ohne Kindheit. Ohne Recht. Wer wird dir helfen, Isaak?

Dies ist keine Probe. Es ist Realität, die mich erschaudern lässt. Mich beschämt. Und wütend macht. Wie können wir nur wegschauen? Wie halten wir das aus? Wie können wir essen, trinken, leben, lachen im Wissen um die Ohnmacht der Kleinsten? Wer wird ihnen helfen? Wer holt sie aus ihrem Elend? Wer singt ihnen ein Lied, wenn die Nacht kommt? Wer hält ihre Hand, wenn sie sterben?
Und dann die Rettung. In letzter Sekunde. Wieder ein Engel im Spiel. Einer, der Stopp! sagt. Fürchte dich nicht! Einer, der dich losbindet. Befreit. Auch deinen Vater. Uns alle.

Wo bleibt der Engel, der uns ruft? Hier sind wir, Gott! Fall uns in den Arm, reiß das Messer aus unserer Hand und weck uns auf, damit wir sehen! Mach uns widerständig und aufmerksam! Stell dich uns und unseren tödlichen Plänen in den Weg! Schaffe uns Recht mit unseren frei gewordenen Händen und Herzen! Mit unseren gelösten Zungen!

Unterwegs mit Isaak, nichts ist wie vorher. Schwere Schritte sind das. Ich bleibe dran.
 
Unsere Autorin
Sindy Altenburg ist Pastorin in Dreveskirchen bei Wismar.
Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.