Artikel teilen:

„Wir schaffen das“ – Angela Merkel zieht Bilanz nach 10 Jahren

Altbundeskanzlerin Angela Merkel zieht zehn Jahre nach ihrem legendären Satz „Wir schaffen das“ im Interview Bilanz – über Glauben, Verantwortung und die Herausforderungen von damals bis heute.

Im Interview spricht Altkanzlerin Angela Merkel über die Entstehung, Wirkung und heutige Bedeutung ihres Satzes „Wir schaffen das“
Im Interview spricht Altkanzlerin Angela Merkel über die Entstehung, Wirkung und heutige Bedeutung ihres Satzes „Wir schaffen das“Imago / Poolfoto

Frau Merkel, im August 2015 sagten Sie: „Wir schaffen das.“ Es war nicht „Ich schaffe das“ und auch nicht „Deutschland schafft das“, sondern bewusst ein „Wir“. Wer genau ist dieses „Wir“ für Sie – und warum war Ihnen diese kollektive Formulierung so wichtig?
Angela Merkel:
Die Formulierung ist erst kurz vor der Pressekonferenz am 31. August 2015 entstanden. Mir war klar, dass mit den vielen in Deutschland Zuflucht suchenden Flüchtlingen eine große Aufgabe auf uns zukommt. Mit „Wir“ war einerseits die Politik auf allen Ebenen gemeint, von den Kommunen über die Länder bis zur Bundesregierung. Aber mit „Wir“ wollte ich auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes einbeziehen. Das „Wir“ in diesem umfassenden Sinne war mir unglaublich wichtig, weil klar war, dass die Aufgabe, gerade auch die ganz praktischen Dinge am Anfang wie die der Unterkunft, niemals die Bundesregierung allein bewältigen konnte, sondern nur alle gemeinsam und auf allen Ebenen.

Welche Rolle spielte Ihre christliche Erziehung im Hinblick auf dieses Bekenntnis? War Ihre Haltung auch ein Ausdruck Ihres Glaubens?
Meine gesamte Art, Politik zu machen, war natürlich auch davon geprägt, dass ich in einem christlichen Elternhaus groß geworden bin, dass ich selbst an Gott glaube und Christin bin. Das gibt mir das, was man vielleicht am besten mit dem Wort Gottvertrauen beschreibt, und das heißt für mich, auch in schwierigsten Situationen nicht zu verzagen. In der Pressekonferenz am 31. August 2015 ging es dann aber auch um ganz konkrete Aufgaben, für die ich als Bundeskanzlerin Lösungen finden musste.

Viele verbinden Ihre Aussage mit einem humanitären Aufbruch, andere mit politischen Spannungen und gesellschaftlicher Polarisierung. Haben Sie den Satz jemals bereut oder stehen Sie heute umso klarer dazu?
Ich habe den Satz damals aus guten Gründen gesagt und stehe zu ihm, daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich habe mir allerdings nicht vorstellen können, dass er mir so um die Ohren gehauen würde, wie das dann passiert ist. Beim Schreiben meiner Erinnerungen im Buch „Freiheit“ haben meine Co-Autorin Beate Baumann und ich übrigens festgestellt, dass ich in meinem gesamten politischen Leben schon sehr oft so oder sehr ähnlich gesprochen hatte, also nicht erst in der Flüchtlingspolitik. Aber in diesem Fall war meine Entscheidung, in der Pressekonferenz „Wir schaffen das“ zu sagen, ganz offensichtlich eine, die auch polarisierte. Deshalb wird der Satz bis heute mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Bereut habe ich ihn nie.

Kirche und Zivilgesellschaft haben 2015 und bis heute vielerorts schnell, unbürokratisch und beherzt geholfen. Was hat Sie damals besonders bewegt oder beeindruckt an diesem zivilgesellschaftlichen Engagement?
Die Menschen, die in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 in vielen Städten Deutschlands, ganz besonders aber am Münchner Hauptbahnhof, der ja nicht weit von der deutsch-österreichischen Grenze ist, angefangen haben, die vielen ankommenden Flüchtlinge zu empfangen, werde ich nie vergessen. Sie haben gezeigt, dass das Schicksal dieser Menschen sie berührte und sie den Impuls hatten zu helfen. Aber nicht nur in den allerersten Tagen, sondern auch später haben sich unglaublich viele Menschen eingesetzt, ehrenamtlich, in Nichtregierungsorganisationen und auch im Rahmen der politischen Verantwortung auf allen Ebenen. Es war klar, dass es sich nicht nur um eine Aufgabe weniger Tage handeln würde, sondern dass wir einen langen Atem brauchten. Es hat mich außerordentlich beeindruckt, dass so viele nicht darüber lamentiert haben, was alles nicht geht, sondern einfach gesagt haben, was geht, und anpackten. Auch für die sehr enge Zusammenarbeit zwischen den Kommunen und der Bundesebene werde ich immer dankbar sein.

 

Rückblick, Bilanz und persönliche Einblicke zehn Jahre nach ihrer prägenden Aussage
Rückblick, Bilanz und persönliche Einblicke zehn Jahre nach ihrer prägenden AussageImago / photothek

 

Welche Rolle messen Sie der Kirche und religiös motivierten Akteurinnen und Akteuren heute in gesellschaftlichen Umbruchzeiten bei?
Eine wichtige, weil die Kirche und alle, die sich in ihr engagieren, ganz gleich ob hauptamtlich oder einfach als Gemeindemitglieder, zeigen können, dass die Botschaft des christlichen Glaubens uns Menschen helfen kann, auch schwierigste Aufgaben zu meistern und nicht an ihnen zu zerbrechen.

Inwiefern haben wir es aus Ihrer Sicht wirklich geschafft? Ist die Integration, wie Sie sie sich im Sommer 2015 vorgestellt haben, gelungen? Wo sehen Sie geglückte Beispiele, und wo auch Versäumnisse oder unbequeme Wahrheiten?
Wir haben vieles geschafft, wenn wir uns beispielsweise die Integration männlicher Geflüchteter in den Arbeitsmarkt ansehen. Nicht so gut sieht es bei geflüchteten Frauen aus, ihre Integration in den Arbeitsmarkt hat sich als viel komplizierter erwiesen. Und auch wenn es in Deutschland islamistischen Terrorismus schon vor 2015 gegeben hat, so ist und bleibt es deprimierend, wenn Anschläge gerade von Asylbewerbern begangen werden; noch dazu, wenn sich herausstellt, dass ihre Asylanträge längst abgelehnt worden waren. Dass Menschen, die kein Aufenthaltsrecht bei uns haben, auch wieder in ihre Heimat zurückgeführt werden, ist bis heute ein nicht zufriedenstellend gelöstes Problem.

Hat „Wir schaffen das“ Ihrer Meinung nach auch eine neue Art der politischen Auseinandersetzung ausgelöst?
Wir können den Satz nicht von der Entwicklung trennen, dass sich 2014 und besonders 2015 sehr viele Menschen auf den Weg machten, in Europa und besonders in Deutschland Zuflucht zu suchen. Diese Fluchtbewegung und die mit ihr verbundene Flüchtlingspolitik, meine Entscheidung vom 4./5. September 2015, die Menschen an der deutsch-österreichischen Grenze nicht abzuweisen, aber auch die mit ihr einhergegangenen harten Auseinandersetzungen haben natürlich polarisiert. Mein Ansatz war und ist zu sagen, dass jeder Mensch als einzelner Mensch wahrgenommen wird und er deshalb ein rechtsstaatliches Verfahren zu bekommen hat, in dem entschieden wird, ob er in Deutschland bleiben kann oder nicht.

Die Aussage wurde zum Kristallisationspunkt für Hoffnung, aber auch für Spaltung. Wie gehen Sie heute damit um, dass rechte Bewegungen Ihre Worte instrumentalisiert haben?
Ich bin überzeugt, dass die demokratischen Parteien es selbst in der Hand haben, ob rechtsextreme Parteien erfolgreich sind oder nicht, und zwar indem sie redlich vorgehen, wenn sie Probleme beim Namen nennen und wirklich zu lösen versuchen. Dazu gehört, das Gelungene nicht unter den Tisch fallen zu lassen, sich die Agenda des eigenen Handelns nicht von den Extremen diktieren zu lassen und auch zu Kompromissen fähig und willens zu sein. Die Bürgerinnen und Bürger haben sowieso ein sehr feines Gespür dafür, was allein taktisch motiviert ist und was wirklich hilft, Probleme in den Griff zu bekommen.

 

 

Wie bewerten Sie den Umgang Deutschlands mit Geflüchteten heute, auch im Vergleich zur Situation von 2015? Ist „Wir schaffen das“ weiterhin ein tragfähiges gesellschaftliches Leitmotiv?
Definitiv, und zugleich hat sich die Aufgabe seit dem 4./5. September 2015 natürlich auch sehr schnell erweitert. Ich habe mich deshalb von Beginn an dafür eingesetzt, die Aufgabe nicht allein national zu verstehen, sondern europäisch. Daher habe ich mich für ein EU-Türkei-Abkommen eingesetzt, das im April 2016 in Kraft trat. Mit ihm sollten die fast drei Millionen Flüchtlinge, die die Türkei beherbergte, bessere Lebensbedingungen in der Nähe ihrer Heimatländer bekommen, und auch legale Migration unterstützt werden, damit Schleppern und Schleusern das Handwerk gelegt werden kann.

Würden Sie sich heute, in Zeiten multipler Krisen, noch einmal zu einem ähnlich klaren Satz hinreißen lassen? Oder ist die politische Sprache vorsichtiger geworden?
Das ist natürlich spekulativ, aber ich bin sicher, dass ich ihn in einer vergleichbaren Situation wieder sagen würde.

Seit 2015 haben soziale Medien eine immer stärkere Rolle in der politischen Meinungsbildung übernommen – oft zugespitzt, emotionalisiert, manchmal auch humorvoll, etwa in Form von Memes wie „Danke Merkel“. Wie blicken Sie auf diese digitale Dynamik zurück? Hat die öffentliche Deutung Ihrer Worte im Netz, im Positiven wie im Negativen, Ihre Wahrnehmung politischer Kommunikation verändert?
Nein, eher bestärkt, denn dass die digitalen Medien Fluch und Segen zugleich sind, war ja nicht neu. Sie verändern und beeinflussen die Kommunikation enorm. Einerseits gibt es im Netz wunderbare Ideen, wie man sie in der analogen Kommunikation nie hätte. Andererseits gibt es immer die Tendenz, Dinge zu verkürzen, und die Gefahr von Falschnachrichten, die man kaum noch einfangen kann. Deshalb plädiere ich dafür, sich neben der digitalen Kommunikation immer auch vertieft in Sachverhalte einzuarbeiten, denn unsere Welt ist und bleibt kompliziert.

Sind Zurückweisungen an den Grenzen aus Ihrer Sicht und vor dem Hintergrund eines christlichen Menschenbildes vertretbar? Lassen sie sich mit dem Grundgesetz und internationalen Vereinbarungen in Einklang bringen?
Ich habe mich immer für eine Flüchtlingspolitik eingesetzt, die nicht mit Zurückweisungen an der deutschen Grenze arbeitet, wenn jemand Asyl begehrt, sondern für eine, die europäisch zu denken ist. Das heißt, europäisches Recht, das Vorrang vor nationalem Recht hat, umzusetzen und wenn das nicht gelingt, alle Kraft einzusetzen, das Recht gemeinschaftlich europäisch zu ändern.

 

Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel CDU besucht die Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und der AWO-Erstaufnahmeeinrichtung im September 2015
Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel CDU besucht die Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und der AWO-Erstaufnahmeeinrichtung im September 2015IMAGO / Christian Thiel

 

Als Physikerin sind Sie es gewohnt, rational zu analysieren – als Christin aber auch, an Hoffnung und Verantwortung zu glauben. Wie haben Sie persönlich diese beiden Perspektiven in Ihrer Amtszeit miteinander verbunden?
Für mich sind das zwei Seiten einer Medaille. Die Eidesformel als Ministerin und als Bundeskanzlerin habe ich immer mit dem Zusatz „So wahr mir Gott helfe“ abgeschlossen, um auszudrücken, dass ich mich auch in schwierigsten Situationen behütet fühlte. Wenn wir dann an die Schöpfungsgeschichte in der Bibel denken, die uns Menschen auffordert, unsere Erde verantwortungsbewusst zu nutzen, dann sehen wir, dass wir dazu das Wissen um die Gegebenheiten benötigen, dass wir Fakten analysieren und Schlussfolgerungen ziehen müssen, wie wir es auch aus den Naturwissenschaften kennen. So können sich die Perspektiven unseres Lebens ergänzen.

Wenn Sie heute einem jungen Menschen, der 2015 als Geflüchteter nach Deutschland kam und nun hier lebt, nur einen einzigen Satz mit auf den Weg geben dürften: Welcher wäre das?
Den einen Satz, der alle Lebenssituationen angemessen trifft, gibt es hierbei nicht, aber vielen würde ich sagen: Trauen Sie sich etwas zu.

Und ganz persönlich zum Schluss: Hat Sie dieser eine Satz, „Wir schaffen das“, verändert? Wenn ja, auf welche Weise?
Der Satz selbst hat mich nicht verändert, aber seine Wahrnehmung. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie man ihn so ablehnen konnte. Damit hat er, zusammen mit meiner Entscheidung vom 4./5. September 2015, meine Amtszeit in ein Vorher und ein Nachher geteilt.