„Wir müssen zum Wohle anderer verzichten“

Die Pinneberger Autorin Sibylle Hallberg sieht angesichts aktueller Krisen, Kriege und Flüchtlingsströme jeden Einzelnen darin gefordert, Gemeinsamkeit, Respekt und Toleranz vorzuleben. Hallberg liest am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus in der evangelischen Hamburger Hauptkirche St. Michaelis aus ihrem Buch „Die reinste Wahrheit“ (27. Januar, 19 Uhr). Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) betont sie den Wert von Streitgesprächen.

epd: Welche Bedeutung hat der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus für Sie persönlich?

Sibylle Hallberg: Dieser Gedenktag hat für mich persönlich stark an Bedeutung gewonnen, seit ich vor einigen Jahren das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau selbst besucht habe, wo der grauenvolle Wahn der Nationalsozialisten immer noch allgegenwärtig ist. Diese Spuren des Schreckens sind ein Mahnmal, strafen jeden Holocaust-Gegner Lügen und sind für mich, zusammen mit den vielen Gedenkfeiern am 27. Januar zur Befreiung von Auschwitz, ein wichtiges und wuchtiges Zeichen gegen jede Form von Rassismus und Ausgrenzung.

epd: Wie steht es Ihrer Meinung nach um das gesellschaftliche Miteinander in Deutschland, auch und gerade im Hinblick auf Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus?

Hallberg: Erinnerungskultur zu bewahren, reicht allein gegenwärtig nicht aus. Durch Flüchtlingsströme, schwere Krisen und Kriege, die uns zumindest indirekt betreffen, sind wir alle ganz aktuell gefordert. Meiner Meinung nach wird viel von Toleranz und Respekt gegenüber dem Anderen geredet, aber es wird immer noch zu wenig vorgelebt.

Wir sind in Deutschland lange verschont geblieben, konnten uns in jeder Hinsicht sicher fühlen und unseren Individualismus ausleben. Jetzt geht es darum, Gemeinsamkeit vorzuleben, Stärke zu zeigen, vor allem innere Stärke, denn wir müssen uns auf andere Verhältnisse einstellen, zurückstecken, zum Wohle anderer verzichten.

Ich frage mich: Haben wir das alles verlernt? Werden deswegen der Umgangston und das Verhalten vieler immer rauer, wird deswegen aus einem zufriedenen Bürger ein Wutbürger, der ein Ventil braucht und dabei manchmal die Kontrolle verliert?

epd: Wie lässt sich den von Ihnen geschilderten gesellschaftlichen Entwicklungen entgegenwirken?

Hallberg: Wer schreibt, denkt nach. Wer liest, denkt nach. Wer zuhört, denkt nach. Er versteht und ist sensibilisiert. Ich glaube, nur so kann Demokratie auf Dauer gelingen. Streitgespräche sind nötig, müssen aber sachlich und möglichst ruhig geführt werden. Das Konstruktive daran müssen wir üben. Ich glaube fest daran, dass Worte Kraft verleihen.

Sibylle Hallberg ist seit zwei Jahrzehnten als Autorin von Gedichten, Erzählungen, Kurzgeschichten und Essays tätig. Sie ist Mitglied in der Hamburger Autorenvereinigung.