„Wir hatten mehr Glück als Maria und Josef“

Für Ukrainerinnen und Ukrainer ist es das erste Weihnachten seit dem Überfall Russlands am 24. Februar auf ihr Land. Zwei Geflüchtete schreiben, wie sie das erste Fest fern der Heimat erleben.

Stall mit heiliger Familie
Stall mit heiliger Familieunsplash/ Pawel Wiladek

Herberge gefunden

Ich denke viel an meinen Vater. Ich vermisse ihn sehr. Ich bin Einzelkind, er hat immer für mich gesorgt. Zusammen mit meiner Stiefmutter lebt er in Odessa.

Mein Vater ging sein ­Leben lang regel­mäßig in die Kirche und hat mit uns die Feste vorbereitet. Er half die ­Speisen zuzubereiten und sprach die Gebete. Zu mir sagte er: „Wenn alles gut läuft, wirst du Gott vergessen; in der Not wirst zu wieder zu ihm finden.“ Wie wird er in diesem Jahr Weihnachten feiern?

Die meisten Städte in der Ukraine sind dunkel. Die einzigen Lichter sind manchmal die Ampeln, aber auch die funktionieren oft nicht. Es gibt keinen Strom, es ist kalt.

Mein Vater geht vermutlich in die Kirche. Dort brennen nur Kerzen. Dann steigt er ­wieder hoch in den zehnten Stock seiner Wohnung, dann steigt er wieder herunter, um den Hund auszuführen, denn der Aufzug fährt nicht. Früher gab es zu Weihnachten zwölf Gänge. Ich weiß nicht, was er dieses Jahr ­essen wird. Er hat einen ­Elektroherd, aber die Lebensmittel sind teuer geworden.

Meine Tochter hat neulich mit ihm telefoniert und ihn gebeten, nach Deutschland zu kommen. Aber er tut sich schwer, so wie es auch mir schwer fiel, meine Heimat zu verlassen. Ich bin nur der Kinder wegen gegangen. Mein Sohn wird bald volljährig. Mein Onkel und mein Cousin haben gesagt: Verlass das Land, damit der Junge nicht eingezogen wird. Die beiden Männer sind längst gefallen.

Wir werden Weihnachten hier mit der ­Gemeinde feiern. Meine Kinder durften ihre Wünsche auf Zettel schreiben, freundliche Leute aus der Gemeinde werden sie erfüllen. Ich bin dankbar für alle Hilfe und Herzlichkeit, die ich erfahren durfte. Es kommen so unterschiedliche Leute hierher, aufgenommen wurden wir alle mit der gleichen Herzlichkeit.

Wir hatten mehr Glück als Maria und ­Josef, wir haben eine Herberge gefunden, Wärme und Zuwendung. Andere sitzen noch in Bahnhöfen, Kellerlöchern oder Erdgruben. Wir und unsere Kinder werden unser Leben lang geprägt sein vom Krieg. Und wir werden das Gefühl der Dankbarkeit ein Leben lang im Herzen tragen. Ich wünsche uns allen ­Gesundheit und Frieden.

Hanna aus Odessa, 39 Jahre

 

Liebe und warme Hände

Dieses Jahr ist Weihnachten anders für mich. Alles ist anders. Es ist Krieg in meiner Heimat, und meine Mutter ist gestorben. Das Leben geht irgendwie weiter, aber anders.

Ich war lange Zeit so erschüttert, dass ich mich nicht zur Flucht entschließen konnte. Diese Gewalt ist entsetzlich. Wir haben so viele Kriege erlebt in der Geschichte, ich kann es nicht verstehen. Es tut alles so weh, als wäre die Haut ganz wund.

Meine Tochter hat mich gedrängt, Kyiv endlich zu verlassen. Ich habe dann irgendwann meine Tasche gepackt und bin ins ­Ungewisse gefahren. Sie ist in Breslau, ich bin allein in Berlin. Jeden Tag telefonieren wir miteinander. Jeder Tag beginnt mit Nachrichten aus der Heimat. Jeden Tag sterben dort Menschen gewaltsam. An jedem Tag leiden die Kinder.

Wenn wir keinen Glauben haben, keine Hoffnung auf eine Wendung zum Besseren – dann erstarren wir zu Salzsäulen. Ich hoffe, Gott wird die Schuldigen zur Rechenschaft ziehen. Und ich hoffe, wir lernen, das Leben zu schätzen. Denn es ist so kostbar. Hier schenken uns viele Menschen ihre Liebe. Unser Leiden ist ihnen nicht egal, sie teilen ­unseren Schmerz. Dafür werde ich immer dankbar sein. Ich werde nie vergessen, wie mich in der Fremde die warmen Hände der Freiwilligen berührten – solche Gefühle kannte ich bisher nicht.

Ich möchte gerne etwas zurückgeben, aber es ist schwierig ohne die Sprache. Darum lerne ich nun Deutsch. Eigentlich feiern wir Weihnachten im Januar, aber in der Ukraine passen wir uns an die europäischen Standards an, auch in der Religion, und darum ­feiern wir gerne mit im Dezember. Haupt­sache ist doch, wir sind zusammen.

Ich werde zu meiner Tochter fahren. Ich freue mich so, sie zu sehen und zu umarmen! Mein Leben hat einen Sinn durch die Liebe, die uns verbindet.

Ljudmila aus Kyiv 47 Jahre

Mit Hanna und Ljudmilla gesprochen hat Pfarrer Sven Grebenstein. Übersetzt hat ­Michael Zwilling, Sozialbetreuer in der Notunterkunft und Mitglied im Gemeindekirchenrat der Markus-Gemeinde in Berlin-Steglitz.