Wie Jugendliche Fake News entlarven lernen

Ein Journalist, eine Horde Jugendlicher und zwei große Fragen: Wie umgehen mit Desinformationen? Und wie funktioniert eigentlich professioneller Journalismus?

Als die Schülerinnen und Schüler der Klasse 10.3 an diesem Morgen in ihren Klassenraum traben, geht nicht wie sonst das Fach Gemeinschaftskunde los. Auf der Leinwand vorn stehen in Knallrot auf blauem Untergrund die Worte: „What the fake!“. Daneben: „Fake News entlarven“, abgebildet ist ein Mann mit einer Lupe.

Was zeichnet Falschnachrichten aus? Influencer, Content Creator, Journalisten – wer macht was? Und nach welchen Prinzipien arbeiten Journalisten eigentlich? Mit den Teenies über diese Fragen zu sprechen, ist heute Jochen Klugs Auftrag. Mehr als 20 Jahre hat Klug als Redakteur und Reporter für das ZDF gearbeitet.

Als Ehrenamtlicher für den Verein Lie Detectors ist der 66-Jährige für eine Doppelstunde an der Martin-Buber-Oberschule in Berlin-Spandau zu Besuch. Der Verein möchte kritisches Denken und Medienkompetenz unter Jugendlichen fördern. Mehr als 450 Journalisten engagieren sich inzwischen; nicht nur an deutschen Schulen, auch in der Schweiz, Österreich, Belgien, Luxemburg, Polen. So wurden seit 2017 mehr als 90.000 Schülerinnen und Schüler mit dem Angebot erreicht.

Das Anliegen des Vereins könnte dringlicher nicht sein, hat Künstliche Intelligenz (KI) doch das Aufkommen von Desinformation enorm verstärkt. Allein die Zahl täuschend echter Nachrichten- und Informationsseiten, auf denen KI-generierte Falschartikel erscheinen, hat sich laut NewsGuard, einer Organisation, die Fehlinformationen aufspürt, seit Mai 2023 mehr als verzehnfacht.

Besonders Kinder und Jugendliche laufen zudem Gefahr, auf Online-Plattformen schrittweise radikalisiert zu werden. Online-Kommunikation verlagere sich zunehmend von öffentlichen, großen Angeboten in kleinere Kommunikationsräume, hatte die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz kürzlich gewarnt. Extremistische Inhalte etwa von rechtsextremen Akteuren seien in vielen Fällen „jugendaffin und professionell gestaltet“.

Eine im Herbst erschienene Studie des Leibniz-Instituts für Medienforschung ergab zudem, dass besonders „gering informationsorientierte“ junge Menschen ihre Interessen und Anliegen in den klassischen Nachrichtenmedien nicht wiederfinden – und fast ausschließlich über beiläufige Informationskontakte bei TikTok und YouTube auf dem Laufenden bleiben.

Auch Kriege wie der zwischen Israel und der Hamas werden zunehmend in den Sozialen Medien ausgefochten. So verbreitete etwa die Hamas zu Propagandazwecken emotionalisierende Bilder verletzter Kinder in den Sozialen Netzwerken, erstellt mit Hilfe einer KI – erkennbar zum Beispiel an sechs statt fünf Fingern an der Hand eines Kindes. Ein typischer KI-Fehler.

Um den Krieg geht es auch zu Beginn der Schulstunde. Jochen Klug fragt die Jugendlichen, wo ihnen in letzter Zeit Hinweise auf „Fake News“ aufgefallen seien. Ein Junge mit wasserstoffblonden Haaren, Lederjacke und roter Schlaghose hebt die Hand. In der „New York Times“ habe er gelesen, der Hamas-Angriff auf Israel sei doch keine Überraschung gewesen. Er glaubt nicht, dass die „Times“ Falschinformationen verbreite, ist sich aber auch unsicher, was er eigentlich glauben soll.

Ein heikles Thema. Doch in dieser Schulstunde geht es nicht darum, Fragen von Schuld und Verantwortung in einem Krieg zu diskutieren. Klug geht kurz auf den Sachverhalt ein, lenkt das Gespräch aber schnell auf eine allgemeine Ebene: „Halten wir mal fest: Da geht es darum, was ist wahr, was nicht? Und darum, wie Medien eigentlich arbeiten.“

Bevor er mit den Jugendlichen eintaucht in die Materie, wird „lebendige Statistik“ gespielt. „Wer von euch nutzt TikTok für Infos?“, fragt Klug ins Klassenzimmer. Für „Ja“ sollen sich die Schüler auf die rechte Seite des Klassenzimmers stellen, für „Nein“ nach links. Bei Tiktok stehen alle 24 Jugendlichen links: Angeblich nutzt also niemand die App für Infos. Klug ist überrascht. „Und wer Instagram?“ Großes Gemurmel – fast alle gehen rüber nach rechts.

Von den klassischen Medien schneidet das Fernsehen noch am besten ab; Radio hört niemand, Zeitung lesen gerade mal vier Schüler online. Nach Podcasts, deren Beliebtheit unter jungen Menschen konstant im Trend liegt, fragt der 66-Jährige nicht. Lehrerin Karina Bilo hakt bei ihren Schülern nach: „Guckt ihr denn wirklich Fernsehen?“ Ein Schüler: „Na ja, nee. Das Erste, ZDF und so, die posten ja alles, was sie im Fernsehen sagen, auch auf Instagram. Da sieht man das halt auch.“

Bezeichnend für diesen Trend ist auch ein Moment in der zweiten Einheit von Klugs Workshop mit den Jugendlichen. Er fragt sie nach dem Unterschied zwischen Influencern und Journalisten. Eine gemurmelte Antwort: „Na, Influencer machen’s spannender.“

Im Laufe der 90 Minuten will Klug die Gruppe darin schulen, Informationen nachzurecherchieren, seriöse von unseriösen Quellen zu unterscheiden. Er erklärt ihnen journalistische Prinzipien wie Unparteilichkeit, Genauigkeit, Menschlichkeit. „Die Suche nach der Wahrheit steht im Mittelpunkt“, steht auf einer Folie. Doch dass auch Journalisten nur Menschen sind, die oft unter hohem Zeitdruck arbeiten, die auch mal Fehler machen und sich der Wahrheit im besten Falle annähern, das ist genauso Thema.

Auch KI ist zentral. Klug hat viele Beispiele von Desinformation mitgebracht – gefakte TikTok-Memes etwa. Es sind absurde, eher offensichtliche Fakes. Ein Hai etwa, der angeblich nach Überschwemmungen durch die Straßen schwimmt. In Wirklichkeit schwimmt er im Meer, das Bild wurde irreführend bearbeitet. Mit einem Bild des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden wird es schon politischer. Er fasst darauf dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei einem Staatsbesuch an den Hintern. In Wirklichkeit befindet sich Bidens Hand auf Selenskyjs Rücken. Im Nachhinein wurde die Aufnahme falsch bearbeitet und mit einem Kommentar versehen. Dieser impliziert, die amerikanische Unterstützung der Ukraine verschaffe dem Präsidenten „exclusive groping rights“, also exklusive Rechte, zu betatschen.

Zu offensichtlich für die Zehntklässler der Spandauer Oberschule. Insgesamt sind sie nicht leicht aus der Reserve zu locken. Immer wieder ist zu hören: Wissen wir doch schon. Auch gegen Ende sagen das mehrere. Lehrerin Karina Bilo bezweifelt das. „Die glauben, alles zu wissen.“ Es haben sich jedoch auch immer wieder dieselben drei, vier vorlauten, aber auch gut informierten Jungs zu Wort gemeldet, während der Rest der Gruppe überwiegend still bleibt, konzentriert zu lauschen scheint, aber wenig reagiert.

Die Feedback-Bögen, die Jochen Klug am Ende der Doppelstunde verteilt, zeichnen ein durchaus positives Bild: Viele Schüler haben dort angegeben, von vielen Informationen überrascht gewesen zu sein. Außerdem sei es toll, dass sie jetzt den Berufsstand Journalist mal an einer konkreten Person festmachen könnten, findet Lehrerin Bilo.

Sie will Klugs Besuch nur als Anfang verstanden wissen, hat bereits mit einer weiteren Unterrichtsstunde zum Thema AfD-Verbot angeknüpft. Ihre Schüler hätten ein gutes Gespür für die Abwägung der Seriosität einer Quelle und auch für die Nachrecherche gezeigt. Vielleicht haben die Lie Detectors ja dazu beigetragen.