Wie geht gerechtes Gedenken?

Es gibt Streit um eine koloniale Gedenktafel in der Cottbuser Oberkirche.

Gedenktafel in der Cottbuser Oberkirche (Ausschnitt)
Gedenktafel in der Cottbuser Oberkirche (Ausschnitt)Katharina Körting

Eine Gedenktafel in der Cottbuser Oberkirche St. Nikolai erinnert an deutsche Soldaten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Asien und Afrika umgekommen sind. Einige meinen, ein solches Epitaph sei rassistisch und verherrliche Militarismus und Kolonialismus, wenn es unkommentiert und ohne Erwähnung der Opfer der Kolonialherrschaft bleibt. Andere sehen ein historisches Zeugnis, das man nicht nach heutigen Maßstäben bewerten dürfe. Wie – und wessen? – gedenkt man richtig? Ein Besuch vor Ort.

Die Geschichte der Cottbuser Oberkirche reicht bis ins frühe Mittelalter zurück. In der schmuck hergerichteten Kirche findet man viele Informationen zur Baugeschichte, aber keine Hinweise zu ihrer NS-Vergangenheit. Während der NS-Zeit war sie laut Pfarrer Uwe Weise ein Zentrum der nationalsozialistischen „Deutschen Christen“. Deren Hauptprotagonist Joachim Hossenfelder ist Cottbuser und wurde dort getauft. Im Gemeindearchiv gebe es jedoch „keinerlei Akten aus der Zeit 1933 bis 1945“, wundert sich Kirchwart Ralf Troppa. Dafür hängt ein Zeugnis aus der deutschen Kolonialzeit (1880–1919) gut sichtbar an der Südwand. Das hölzerne Epitaph von 1909 tut kund, dass Soldaten „aus der Garnison und dem Landwehrbezirk Cottbus starben für Kaiser und Reich“, ein Musketier und ein Pionier „in China“, weitere Soldaten „in Afrika“. Darunter: „Ehre ihrem Andenken.“

Macht, Farmland und Diamanten

Mit „Afrika“ ist das frühere Deutsch-Südwestafrika gemeint, von 1884 bis 1915 eine deutsche Kolonie auf dem Gebiet des heutigen Staates Namibia. Die in der Oberkirche geehrten Soldaten starben unter anderem in Kub. Dort ließ der preußische General Lothar von Trotha (1848–1920) als Oberkommandeur der sogenannten Schutztruppen 1904 und 1905 Aufstände von Ovaherero niederschlagen. „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen“, lautete sein Befehl. In einem Brief an den deutschen Generalstab bekräftigte von Trotha: „Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss.“ Es ging um Macht, Farmland und Diamanten.

In weitere Gefechte der Jahre 1904 bis 1908 waren auch Nama verwickelt. Insgesamt töteten die rund 14000 deutschen Soldaten gezielt bis zu 80000 Menschen. Das Vorgehen gilt heute als Genozid. Bei den deutschen Truppen starben etwa 1400 Männer in Kämpfen, aber auch durch Krankheiten.

In der Oberkirche ist von Völkermord keine Rede. Auch Gemeindepfarrer Uwe Weise nimmt das Wort nicht in den Mund. Er spricht von „kriegerischen Auseinandersetzungen“. Für ihn handelt es sich bei solchen Gedenktafeln „primär um Zeugnisse von lokalem Toten­gedenken“. „Dies ist eine Bürger­kirche“, erklärt er, „hier lagert sich ab, was das öffentliche Leben an Gedächtnis- und Trauerkultur gebraucht oder gesucht hat.“ Für das Gedenken an die Opfer der deutschen Truppen sei die Ober­kirche nicht der authentische Ort.

Pfarrer Uwe Weise am Taufstein, hinter ihm Kinder-Epitaphien
Pfarrer Uwe Weise am Taufstein, hinter ihm Kinder-EpitaphienKatharina Körting

Gegen eine „ahistorische Moralisierung von Geschichte“

Jüngere Theolog*innen um Josephine Furian sehen das anders. „Der Gefallenen in einer Kirche so imperial zu gedenken – und nicht der Opfer und antikolonialen Widerstandskämpfer*innen – ist ein geistlicher Schaden, der behoben werden muss“, sagt die Pfarrerin für Flüchtlingsarbeit im Sprengel Görlitz, die sich im Befreiungs­theologischen Netzwerk engagiert. Sie ist im südlichen Afrika aufgewachsen und fühlt sich für die Aufarbeitung der Kolonialverbrechen ihrer Vorfahren verantwortlich.

„Es muss ein Prozess restaurativer Gerechtigkeit beginnen anlässlich dieser Tafel“, fordert Furian. Es habe dazu bereits eine Konsultation und Abstimmung mit Pfarrerin Marion Gardei, der EKBO-Beauftragten für Erinnerungskultur, gegeben, sagt Weise: „Wir sind hier sehr kompetent in den Ausführungen, wenn wir gefragt werden, aber wir lassen den Kirchraum mit allem, was er zu bieten hat, erstmal für sich sprechen.“ Er sei gegen eine „im Kern ahistorische Moralisierung von Geschichte“.

„Kirche ist kein Museum“, meint dagegen Lukas Pellio, einer von drei Pfarrern in Spremberg im Kirchenkreis Cottbus. Das einseitige Totengedenken der Kolonialzeit sei rassistisch. „Rassistisches und koloniales Wissen hat Kontinuität, gerade in solchem Totengedenken“, erläutert Miriam Friz Trzeciak, Dozentin für Interkulturalität an der Brandenburgischen Technischen Universität (BTU) Cottbus und Organisatorin von postkolonialistischen Stadtrundgängen. Mit solchen Ehrungen seien Militarismus und Kolonialismus verankert worden. Trzeciak ist sicher: „Am gewaltvollen Charakter der Tafel besteht kein Zweifel.“

Erhalten, abhängen oder kommentieren?

Die Kirchengemeinden müssten „irgendwie damit umgehen“, sagt Gardei, „erhalten oder abhängen oder kommentieren.“ Nicht wenige empfänden die Heldenverehrung auf solchen Tafeln nicht mehr als zeitgemäß. Furian verweist auf eine Erklärung aus dem Jahr 2017, mit der die EKD bekannte: „Durch die theologische Rechtfertigung von imperialem Machtanspruch und kolonialer Herrschaft“ hätten die deutschen Landeskirchen „den Boden für den Tod vieler tausender Angehöriger der namibischen Volksgruppen mit vorbereitet.“ Es „prägte ein tiefsitzender Rassismus (…) ihr Denken und vergiftete ihr Reden und Handeln. Dies ist eine große Schuld und durch nichts zu rechtfertigen“. Auch die Landes­synode will mehr Selbstreflexion wagen: Die Synode begrüße „die aktive und selbstkritische Aus­einandersetzung mit Rassismus innerhalb der EKBO“, heißt es in einem Beschluss vom November 2021.

Furian und Pellio wollen sich jedenfalls nicht abfinden mit Gedenktafeln, die „das Leid von in den deutschen Kolonien Ausgebeuteten, Beraubten und Ermordeten völlig ausblenden“. Täter dürften durch ein Gedenken nicht glori­fiziert werden, da die Kirche so zu einem „Ort kolonialer Erinnerung wird – und nicht zu einem Ort der Heilung und Befreiung“. Aus der protestantischen Mitschuld an deutschen Kolonialverbrechen erwachse für jede Gemeinde die Verantwortung, gemeinsam mit Angehörigen von Opfergruppen die imperiale Geschichte aufzuarbeiten.

„Die hing da einfach“

Darüber wurde im Gemeinde­kirchenrat (GKR) der Oberkirche diskutiert, sagt dessen Vorsitzender Norbert Ständike, der sich seit Anfang der 1980er Jahre an der Oberkirche engagiert. „Die Tafel ist nie richtig in unserem Bewusstsein gewesen“, erinnert sich der 67-Jährige, „die hing da einfach“. Stimmt, meint Kirchwart und ehrenamt­licher Kirchenführer Ralf Troppa. Seit 1986 arbeitet er an der Oberkirche, 1989 hat er den Wehrdienst verweigert. Bereits damals habe es die Tafel und eine Beschilderung für die Öffentlichkeit gegeben:

„Gedenktafel für die Gefallenen der Kolonialkriege in China und Südwestafrika (Namibia)“. Ohne Wissen der Gemeinde sei die Tafel 2009 durch ein Projekt im Internet beschrieben worden, das sich den Gefallenen der deutschen und österreichischen Streitkräfte widmete. Im Januar 2016 habe sich auch das Gebirgsjägermuseum Sonthofen in Bayern für das Epitaph interessiert und einen Artikel in der Zeitschrift des Kameradenkreises der Gebirgstruppe veröffentlicht. „Das Interesse an Memorabilia und Militaria scheint stetig zuzunehmen“, bemerkt Troppa, „da haben wir noch viel aufzuarbeiten“.

Nur wie? „Wir sind bereits Friedenszentrum“, sagt Weise, denn die Oberkirche gehört zur weltweiten, der Versöhnung verpflichteten Nagelkreuzgemeinschaft. „Da muss ich nicht noch etwas drauflegen“. Eine öffentliche Diskussion sieht er kritisch. Er befürchte, „dass das Framing einer solchen Veranstaltung einem differenzierten und historisch fokussierten Umgang kaum eine Chance lässt“. Das habe er oft schon in anderem Rahmen erlebt.

Erinnerungsarbeit mit Schüler*innen ist geplant

„Wir beziehen das Thema verantwortlich in die Konfirmandenarbeit ein“, versichert Weise. Auch sei über die nächsten Jahre ein interdisziplinäres Projekt mit Leistungskurs-Schülern des Evangelischen Gymnasiums Cottbus geplant. „Wir beginnen mit der Projektarbeit im Februar 2024“, bestätigt Schulleiter Kaspar Kaiser. Im Jahr 2024 jährt sich der im heutigen Namibia begangene Völkermord zum 120. Mal. Der Schulleiter freut sich „auf diese spannende und herausfordernde Auseinandersetzung mit dem Epitaph“.

Dem Ergebnis will auch GKR-Vorsitzender Ständike nicht vorgreifen, aber: „Wir werden dort eine passende Texterklärung anbringen.“ Dabei werde „sicherlich der Opfer mit­gedacht“. Während es Josephine Furian „nicht reicht, einen Zettel da hinzukleben“, sieht Gardei „eine große Chance, aus Kriegsdenk­mälern durch Kontextualisierung und Aufklärung Frieden zu lernen“. Rund um den 2. Oktober, dem Tag des Vernichtungsbefehls von Trotha, plant die Gruppe um Furian
zusammen mit dem Stadtmuseum Cottbus eine Veranstaltung.

Oberkirche, Oberkirchplatz. 1, Cottbus.
www.st-nikolai-cottbus.de

Arbeitsgruppe restorative Gerechtigkeit im Befreiungstheologischen Netzwerk in der EKBO. Ansprechpartnerin ist Josephine Furian. E-Mail: j.furian@ekbo.de

Diskussion: Kultur und Kirche post­kolonial – Wie geht das? Donnerstag, 25. Mai, 19 Uhr in der St.-Matthäus-Kirche in Berlin-Tiergarten.

Was bedeutet es, Kultur und Kirche postkolonial zu denken? Was muss sich im jeweiligen Selbstverständnis ändern, wenn Kolonial- und Missionsgeschichte konsequent aufgearbeitet werden? Diese Fragen diskutieren: Roy Adomako (Anwalt, angefragt), Nadja Ofuatey-Alazard (Dekoloniale), Andrea Scholz (Referentin für transkulturelle Zusammenarbeit und Kuratorin, Eth­nologisches Museum), Meike Waechter, (Referentin Gemeindedienst im Berliner Missionswerk) und Olaf Zimmer­mann (Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates). Der Eintritt ist frei. Der Eintritt ist frei. Mehr unter: www.stiftung-stmatthaeus.de