Von Kinderlied bis Karnevalshit ist alles erlaubt: Im Fußballstadion zählt beim Singen vor allem die Mitsingbarkeit. Vereinshymnen und Fangesänge stiften Gemeinschaft. Die Anfänge haben mit einer britischen Band zu tun.
22 Leute rennen hinter einem Ball her, als gäbe es kein Morgen: Genau das fasziniert Millionen. Fußball ist ein Weltereignis – und mit Beginn der neuen Bundesligasaison am Freitag rollt der Ball auch in Deutschland wieder. Und zehntausende Kehlen schmettern: “Oh, wie ist das schön”, “Zieht den Bayern die Lederhosen aus” oder “Auf geht’s – hier Vereinsname einfügen – schießt ein Tor!” Schon vor dem Anpfiff werden Hymnen angestimmt wie “Die Legende lebt”, “Mer stonn zo dir, FC Kölle” oder “Hamburg meine Perle”. Aber warum wird im Stadion überhaupt so viel gesungen?
1964, Anfield Stadium, Liverpool, England: Ein ganzer Block im Stadion, zumeist gut gekleidet in Anzug und Krawatte, gibt einen Beatles-Song zum Besten. Textsicher, Strophen inklusive: “She loves you, yeah, yeah, yeah”. Hier liegt ein wichtiger Beginn der Fußballgesänge, ist Experte Joachim Thalmann überzeugt. Vermutlich hätten sich die Fans gelangweilt. Die Songs der Beatles habe in Liverpool damals jeder mitsingen können. Geboren ward der Stadiongesang.
Andere Vereine hätten dann versucht, dem nachzueifern – wenn auch nicht nur mit Beatles-Songs. “Megafon-bewaffnete, stimmgewaltige Männer haben versucht, etwas zu brüllen, das alle kannten”, sagt der emeritierte Musikwissenschaftler der Hochschule für Musik in Detmold. “Und die haben es dann mitgesungen.” Wichtig: Melodien müssen bekannt und einfach zu singen sein. Kinderlieder wie “Pippi Langstrumpf”, Volks- oder sogar Weihnachtslieder, Karnevalssongs und immer noch Melodien der Beatles werden mit neuen Texten versehen und dann gemeinschaftlich zum Besten gegeben. “Qualität ist dabei egal”, betont Thalmann.
Von Anfeuerungsrufen über Schmähsongs bis hin zu Gesängen, die das Spielgeschehen unmittelbar kommentieren, reicht das Repertoire der Fans. “Wo am meisten gewonnen wird, wird auch am meisten gesungen”, weiß Thalmann. Dass man durch mehr Singen aber auch mehr Siege erzwingen kann, bezweifelt er. Grundsätzlich sei aber eines zentral: das Gemeinschaftsgefühl. “Man möchte etwas bewirken, die Spieler tragen, sie ermutigen oder den Gegner demoralisieren.” Zusätzlich gehe es um die Gemeinschaft zwischen den Fans. Im Stadion spiele es keine Rolle, wer man sei oder was man tue. Gesellschaftliche Unterschiede verschwömmen im gemeinsamen Anfeuern.
Und genau das sieht und hört man vor jedem Heimspiel: Alle heben ihre Schals und singen die Vereinshymne mit. “Weil Musik für ganz tolle Gefühle im Körper sorgt, für Motivation und für Gänsehaut”, meint Christian Wiesing, der seit mehr als 20 Jahren selbst Vereinshymnen auf Bestellung komponiert. “Wenn alle zusammen die Schals hochhalten und ein Lied läuft, dann ist eine unglaubliche Energie im Stadion.” Musik sei “ein absoluter Emotionsverstärker”, sagt der Komponist aus Osnabrück.
An die 100 Vereinshymnen für kleinere Clubs hat er nach eigener Aussage bisher verfasst. Wenn vom Anwalt bis zum Arbeitslosen, von der Oma bis zum Enkel, vom Hip-Hop-Fan bis zum Metalhead der ganze Querschnitt der Gesellschaft im Stadion vertreten ist, kommt es natürlich darauf an, dass ein solches Lied möglichst vielen gefällt. Wie gelingt das? Seine Hymnen, meistens aus dem Rock- und Pop-Bereich, müssten einen Wow-Effekt auslösen, erklärt Wiesing: “So ein Refrain muss direkt ins Ohr gehen und darf nicht zu platt sein.”
Je mehr Infos er von einem Verein bekomme, desto weniger austauschbar seien auch seine Liedtexte. Und diese seien wichtig, um die Identität des Vereins zu betonen: etwa die Geschichte, die Vereinsfarben oder bestimmte Insider. Meist wollten die Clubs schnelle Partyhymnen; ruhigere Songs seien die Ausnahme. Denn die Lieder seien Motivationshilfen – für Fans wie für Spieler.
Dabei kommt es nicht darauf an, dass im Stadion jeder Ton sitzt. Hauptsache, alle singen mit. Dann wird für 90 Minuten – plus Nachspielzeit – aus mehreren zehntausend Einzelstimmen ein gemeinsamer Chor. Solche Klänge tragen laut Thalmann auch nach den Spielen: “Sie sind eine Art gesellschaftlicher Blitzableiter und sorgen dafür, dass die Leute wieder eine Woche lang aufrecht durchs Leben gehen können.”