Wie eine ukrainische Gemeinde Geflüchteten Halt gibt

Kurz nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ist in Aachen eine ukrainisch-katholische Gemeinde entstanden. Hier wird zusammen gelacht und geweint – und auf eine Art mitgekämpft.

Ein Ukrainer betet während des Ostergottesdienstes in Ivano-Frankivsk, West-Ukraine
Ein Ukrainer betet während des Ostergottesdienstes in Ivano-Frankivsk, West-UkraineImago / NurPhoto

Ein junger Pfarrer in weiß-goldenem Gewand singt mit sonorer Stimme – auf Ukrainisch. Mehrere Frauen und ein Mann unterstützen von einer Seitenbank den 28-Jährigen mit der kräftigen Statur. Die Gesänge in dem Gottesdienst haben etwas besänftigendes, reines.

Der Pfarrer vor dem Eichenholz-Altar in der Kind-Jesu-Kapelle am Rande der Aachener Altstadt heißt Roman Horodetskyy. Er stammt aus der Westukraine und kam bereits vor sieben Jahren zum Theologie-Studium nach Deutschland. Erst vergangenen Juni empfing er die Priesterweihe. Seitdem kümmert er sich als griechisch-katholischer Seelsorger in Aachen und im Eifelort Heimbach um seine Landsleute – vor allem um die vor dem Krieg Geflüchteten.

Kurz nach Kriegsbeginn gegründet

Während in vielen deutschen Gemeinden die Kirchenbänke sonntags von Jahr zu Jahr leerer werden, kommen die Menschen hier sogar zweimal die Woche in Scharen zusammen. Die Gemeinde – wenige Wochen nach Kriegsbeginn am 24. Februar gegründet – hat in der Hauskapelle der Ordensschwestern vom armen Kinde Jesus ein Zuhause gefunden.

Zu dem Gottesdienst sind 60 bis 70 Menschen gekommen, Eltern, Kinder, Alleinstehende und ein paar ältere Herrschaften eingepackt in dicke Jacken. Sie singen und beten, bekreuzigen sich in einem fort, den Blick nach unten gerichtet, in sich gekehrt, oder nach vorn Richtung Holzkreuz. Es zierte einst den im Zweiten Weltkrieg zerstörten Vorgängerbau.

Rettung für die Seele

Die Initiative zur Gründung der Gemeinde ergriff Uljana Schulmeyer; die 50-Jährige aus der westukrainischen Stadt Lwiw (ehemals Lemberg) lebt seit mehr als 20 Jahren in Deutschland. Weil die Düsseldorfer Pfarrei, bis März vergangenen Jahres religiöser Treffpunkt der Ukrainer, aus allen Nähten platzte, bat sie den dortigen Pfarrer und den Bischof in München um den Aufbau einer eigenen Gemeinde in Aachen.

„Kirche ist die beste Rettung für die Seele – gerade in Kriegszeiten“, findet Schulmeyer. „Für die Menschen ist die Gemeinde wie ein Stück Zuhause.“ Denn in Deutschland seien den Ukrainern Sprache, Kultur, Regeln fremd. Zudem seien viele der Gemeindemitglieder aus dem Osten der Ukraine geflohen, wo die Gefechte besonders hart waren und sind. Gerade sie bräuchten einen Ort, an dem sie zur Ruhe kommen können.

Beten für Putin-Freund

Auch wollte Schulmeyer verhindern, dass ukrainische Geflüchtete in der pro-russischen Kirche landen. Eine Bekannte aus Charkiw habe dort einmal einen Gottesdienst besucht – und sei schnell wieder gegangen, als für den russisch-orthodoxen Patriarchen und Putin-Freund Kyrill gebetet wurde.

„Vor allem können sie sich über ihre Probleme austauschen“, berichtet Schulmeyer, „oder zusammen weinen oder lachen.“ Auch das Singen liebt die ehemalige Musiklehrerin: „Das ist normal für uns Ukrainer und das befreit die Seele.“

Das Thema Krieg ist bei jedem Treffen präsent. Die meisten Frauen haben Ehemänner, Söhne, Brüder, die in der Ukraine kämpfen.
Mittwochabends wird immer eine Andacht für Verstorbene gehalten. Für das Krippenspiel an Weihnachten verkleideten sich die Kinder als Soldaten und stellten Herodes als Putin dar. Pfarrer Horodetskyy: „Auch Herodes tötete ja zweijährige Kinder.“

Auf eine andere Art kämpfen

Jedes Wochenende seien sie mehr und mehr zusammengewachsen, berichtet Anatolij Didorenko. Der 64 Jahre alte Geschäftsmann wollte mitkämpfen, durfte aber nicht wegen seines Alters. Er kommt aus Dnipro, wo nach einem Raketenangriff auf ein Hochhaus mehr als 40 Menschen starben – unter ihnen mehrere Kinder. „Ein Teil von mir ist hier und ein anderer in der Ukraine – das ist schwer“, berichtet der sechsfache Vater und dreifache Großvater von seinem inneren Zwiespalt.

„Wenn man sich nicht wehren kann oder hier in Deutschland nicht kämpfen, dann kommt man zur Kirche und kämpft auf andere Art“, erklärt Schulmeyer. Sie meint Gebet und Zusammenhalt: „Das alles gehört auch zu diesem Krieg.“ Für einen Soldaten, der an der Front sein Bein verlor, besorgte die Gemeinde einen Duschhocker. In einem Aachener Krankenhaus wartet er auf eine Prothese.

„Es ist Hass entstanden“

Was bedeutet der Krieg für den Glauben? Was macht er mit Werten wie der Feindesliebe? „Schwierige Frage. Es ist Hass entstanden“, räumt Geschäftsmann Didorenko ein. Man werde radikaler – und stärker im Glauben. „Der Glaube an den Sieg des Guten über das Böse, das gibt Kraft, das auszuhalten“, sagt er und stellt einen Vergleich an: „Wie geht man mit einem Vergewaltiger um, der Kinder missbraucht? Man muss ihn isolieren, um andere zu schützen. Dasselbe gilt für Russland.“

Uljana Schulmeyer spricht von einer Prüfung. Seine Feinde zu lieben, das müsse man üben. „Aber wir sind keine Heiligen.“ Und dass man sich nicht wehren dürfe – das stehe nicht in der Bibel. Mitgefühl empfindet sie für junge Russen, die Putin in den Krieg schickt, und für deren Mütter. Doch gegenüber den Machthabern empfinde sie Hass.

In Deutschland fühlten sie sich gut aufgenommen, sagt Didorenko. „Die Menschen sind sehr offen und freundlich, wirklich.“ Alles sei gut organisiert, viele hätten nun eine Wohnung und ein Visum. Trotzdem wollten die meisten möglichst bald wieder zurück in die Ukraine, berichtet Schulmeyer. „Die Sonne scheint auch im Ausland, aber sie wärmt nur Zuhause.“