Wie ein Mädchen den Menschen die Zeit zurückbringt – „Momo“ wird 50

Vor 50 Jahren erschien „Momo“ von Michael Ende: Ein kleines Mädchen kämpft gegen die grauen Zeitdiebe. Endes Plädoyer für unverplante Zeit und die Kraft der Fantasie hat nicht an Aktualität verloren.

Vor 50 Jahren erschien der Roman "Momo" von Michael Ende. Zum Jubiläum gibt es eine Neuauflage
Vor 50 Jahren erschien der Roman "Momo" von Michael Ende. Zum Jubiläum gibt es eine Neuauflageepd-bild / mck

Momo ist ein besonderes Mädchen. Eines Tages taucht sie plötzlich am Rand der großen Stadt auf und fasziniert ihre Nachbarn mit einer besonderen Gabe: Sie kann zuhören wie niemand anderer. Am Ende rettet sie die Menschen, weil sie ihnen die Zeit zurückbringt, die ihnen die „grauen Herren“ gestohlen haben.

Am 1. September 1973 erschien der Märchen-Roman „Momo“ von Michael Ende. Jetzt wird der 50. Geburtstag des Kinderbuches gefeiert, mit einer Neuauflage und einem Bilderbuch im Thienemann-Esslinger-Verlag (Stuttgart), einem Hörspiel und einer Ausstellung in Garmisch-Partenkirchen, dem Geburtsort Endes. Am Drehbuch für einen neuen Momo-Kinofilm – nach der ersten Verfilmung 1986 – wird gerade gearbeitet. Es scheint, als sei das Buch heute so aktuell wie damals.

Jeder Mensch hat seine Zeit

„Denn jeder Mensch hat seine Zeit. Und nur solang sie wirklich die seine ist, bleibt sie lebendig“, heißt es darin. Die Zeit ist das Kernthema von „Momo“. „Sie ist eine der Urerfahrungen des Menschen, das hat Michael Ende beschäftigt“, sagt Roman Hocke, langjähriger Freund und Lektor von Michael Ende (1929-1995). „Sie ist etwas Metaphysisches, das wir einfach so hinnehmen und nicht hinterfragen.“

Ende ist 1960 mit dem Buch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ bekannt geworden. Ein paar Jahre später schenkt ihm eine Bekannte eine alte Taschenuhr ohne Zeiger, an der sich „von allen Seiten die Bilder und Ideen ankristallisierten“, wie der Autor später einmal erzählte. Die Uhr gibt den Ausschlag für seine Arbeit an „Momo“. Sechs Jahre sitzt er an der Geschichte, zieht in der Zwischenzeit von Deutschland nach Italien, in die Nähe von Rom.

Ausgaben in verschiedenen Sprachen des Kinderbuches Momo von Michael Ende im Michael Ende Museum der Internationalen Jugendbibliothek im Schloß Blutenburg in München
Ausgaben in verschiedenen Sprachen des Kinderbuches Momo von Michael Ende im Michael Ende Museum der Internationalen Jugendbibliothek im Schloß Blutenburg in Münchenepd-bild / mck

Gleichzeitig macht Ende sich viele Gedanken über den Zustand der Gesellschaft, in der er lebt. In einem Interview beklagt er, dass ständig neue technische Mittel erfunden würden, um Zeit zu sparen – schnellere Autos, Flugzeuge, Computer. Trotzdem hätten die Menschen immer weniger Zeit. „Darin steckt doch ein ganz verrückter Irrtum, sogar ein wirklicher Betrug. (…) die Menschen werden weder glücklicher noch zufriedener dadurch. Im Gegenteil! Wenn es so weitergeht, werden die Menschen an diesem sogenannten Fortschritt zugrunde gehen.“

Graue Herren stehlen den Menschen ihre Zeit

Die Theaterwissenschaftlerin Floriana Seifert hat ihre Doktorarbeit über Michael Ende geschrieben und zum 50-Jahr-Jubiläum zusammen mit Constanze Werner die Ausstellung „Geh doch zu Momo“ in Garmisch-Partenkirchen kuratiert. „Die Geschichte von ‚Momo‘ beginnt in einer positiven Welt: Es gibt eine Gemeinschaft, die Menschen treffen sich und nehmen sich Zeit füreinander“, erzählt sie. Als das Mädchen Momo auftaucht, bemerken alle schnell deren besondere Gabe: Sie kann so zuhören, dass sie dadurch Streits schlichten, Probleme lösen und aus jedem Menschen dessen verborgene Fähigkeiten herauslocken kann.

Doch dann kommen die grauen Herren in die Stadt. Unter dem Vorwand, sie für ein späteres, besseres Leben aufzubewahren, stehlen sie den Menschen ihre Zeit. Diese werden nun missmutig, müde und verbittert, haben keine Zeit mehr für Gespräche, für ihre Kinder, ihre Freunde. Den Mangel an Zeit versuchen sie, mit Konsum zu kompensieren.

„Für mich sind die grauen Herren nichts anderes als die Repräsentanten des nur und ausschließlich quantifizierbaren Denkens“, sagte Michael Ende einmal. Alles werde zählbar und messbar – und damit gleichgültig. Am Ende stehe die „totale Entfremdung des Menschen von seiner Lebenswirklichkeit“.

„Momo“ ist das erfolgreichste Buch von Michael Ende

Mithilfe der Schildkröte Kassiopeia und von Meister Hora, der den Menschen ihre Zeit zuteilt, schafft Momo es schließlich, die Herrschaft der grauen Herren zu beenden. Was sie schützt, ist die Tatsache, dass sie nicht versucht, die Zeit festzuhalten, sondern sie durch sich hindurchfließen lässt.

„Momo“ ist das erfolgreichste Buch von Michael Ende: 1974 erhielt es den Deutschen Jugendliteraturpreis, bis heute wurde es in 53 Sprachen übersetzt, die Bücher über zwölf Millionen Mal verkauft.

Ende habe in „Momo“ keine Botschaft mit erhobenem Zeigefinger verbreiten wollen, sagt Floriana Seifert. Er bediene sich der Mittel der Fantasie, des Märchens. „Ende schreibt einzigartig und benutzt eine ganz feine Sprache, mit der er Bilder und Welten erschafft, in die man eintauchen kann.“ Das gelte für Erwachsene ebenso wie für Kinder. Ende selbst sagte, er schreibe „für ‚das Kind in uns allen‘“.

Es gehe in dem Buch um die Wertschätzung von Zeit, um authentische zwischenmenschliche Beziehungen, die Bedeutung und Würde des Individuums in der Gesellschaft, Kritik an der Konsumgesellschaft und die Kraft der Fantasie, erklärt Hocke. Deshalb könne und solle man es auch nach 50 Jahren noch lesen. Und Seifert urteilt: „Momo kann uns anregen, manche Dinge auch mal zu hinterfragen und wieder bewusster im Moment zu leben. Dafür nimmt Momo uns an die Hand.“