Wetter, Liebe, Fahrradtouren

Einfach, aber wirkungsvoll ist die Nachricht, die in sauberer Handschrift mit schwarzem Filzstift auf weißem Papier geschrieben steht. Mit Klebeband ist sie ins Fenster der Eingangstür der Buchhandlung „Libreria Milton“ im norditalienischen Alba befestigt: „Wir informieren unsere Kundschaft, dass das Wetter, die Liebe, der Hunger oder das Fahrrad zu einer Veränderung der Öffnungs- und Schließzeiten dieses Buchladens führen können.“

Neu ist der Zettel nicht, die Kunden der Libreria Milton kennen ihn schon länger. Doch vor kurzem hat der Psychoanalytiker und Essayist Massimo Recalcati, dessen Werke auch ins Deutsche übersetzt wurden, ein Foto davon auf seinem Instagramkanal geteilt. Ihm folgen dort 115.000 Menschen. „Ein bisschen Menschlichkeit – wie schön!“, schreibt eine Userin unter das Bild. Jemand anderes kommentiert: „Die haben den Sinn des Lebens verstanden.“ Recalcati selbst ließ eine epd-Anfrage unbeantwortet, warum er ein Foto des Zettels postete.

Über den Zuspruch auf Instagram freut sich Inhaber Carlo Borgogno (49), der den Buchladen im Piemont 2009 eröffnet hat und ihn heute zusammen mit seiner Lebensgefährtin Serena Aimasso (48) und der Aushilfe Nikauly Boggione (30) führt. Der Zettel, sagte Borgogno der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“, solle nicht nur informieren, er repräsentiere auch die Philosophie hinter dem Geschäft. „Sich Zeit zu nehmen ist einfach sinnvoll, denn nur so schaffen wir es, weniger gestresste Menschen zu sein und Zeit zu finden, die Geduld und den Willen aufzubringen, für jeden ein offenes Ohr zu haben.“

Ob Beweis dieser These oder Zufall: Als das Foto im Netz viral ging, hatten sich Borgogno und seine Kolleginnen gerade eine Auszeit genommen und waren mit den Rädern in den Bergen rund um Nizza unterwegs.

Als „die Miltons“ haben sie auch gemeinsam den Zettel unterschrieben. Der Name ihrer Buchhandlung ist angelehnt an den Protagonisten des Buches „Eine Privatsache“ („Una Questione Privata“) von Beppe Fenoglio aus dem Jahr 1963 – ein Klassiker der italienischen Nachkriegsliteratur. Die Geschichte des Partisanen Milton spielt zum Ende des Zweiten Weltkrieges und verknüpft eine schicksalhafte Liebes-, Freundschafts- und Eifersuchtsgeschichte mit den Kämpfen der Partisanen gegen die Faschisten. Eine Geschichte, in der das Private mit dem Politischen untrennbar verbunden ist.

Und so wird auch der Zettel über das Privatleben der Ladeninhaber zu einer öffentlichen Sache, vor allem in Zeiten der sozialen Medien. Die meisten Kommentare seien wohlwollend, erzählt Borgogno, aber es habe auch Kritik gegeben. „Jemand schrieb, dass wir uns so eine Haltung leisten könnten, weil wir wohl ein paar Milliönchen auf der Bank liegen hätten. Ein anderer Kommentar lautete, es sei respektlos, so flexibel mit Öffnungszeiten umzugehen.“

Nein, Milliönchen hätten sie nicht auf dem Konto, sagt Serena Aimasso dem epd. „Leider. Oder nein, zum Glück“, fügt sie schnell hinzu. Die Sucht nach Geld könne gefährlicher werden als jede Droge, ist sie überzeugt. „Und Geiz ist doch die schlimmste der Todsünden.“ Statt Geld sollte man doch lieber schöne Momente anhäufen, sich über gutes Essen freuen, die Zeit mit den Menschen, die man gern hat, genießen. Normalerweise würden Ladeninhaber immer nur Zettel in die Türe hängen, wenn etwas Schlimmes passiert ist: Wegen Trauer oder wegen Krankheit geschlossen. „Warum ist es nicht normal, wenn ich sage: Der Laden hat gerade geschlossen, weil ich glücklich bin?“

Am Ende, erklärt Borgogno, käme ihre Einstellung den Kunden zugute. „Vielleicht nehmen wir uns mal einen Tag, oder einen halben, eine Stunde oder eine halbe – wenn man uns nicht antrifft, ist es, weil wir versuchen, unser Leben zu leben.“ Die Arbeit solle niemals alles sein. „Zum Glück lieben wir das, was wir tun und es erfüllt uns. Aber auch wir müssen die Zeit finden, um uns wieder aufzuladen, um Dinge zu erleben, die uns bereichern, damit wir positiv und einfallsreich sein können.“

Und neue Einfälle sind wichtig. Die Zeit steht auch in Buchläden nicht still. In einer Branche wie der ihren müsse man, um zu überleben, immer mal etwas anders machen, sagt Borgogno. In ihrem Hof organisieren die „Miltons“ oft Buchvorstellungen oder Märkte mit gebrauchten Büchern. Sie legen nach eigener Darstellung großen Wert darauf, mit ihren Kunden eine Beziehung aufzubauen, die über das Ökonomische hinaus geht. Während des Corona-Lockdowns hat sich Borgogno aufs Rad geschwungen und Bücher in die entlegensten Orte der Gegend gebracht. Auch heute macht er das noch. Allerdings erfolgt die persönliche Zustellung nur in einem vernünftigen Kilometer-Umkreis. Und hängt natürlich davon ab, wie viel Zeit er findet.