Wenn Papa im Gefängnis sitzt

Rund 100.000 Kinder in Deutschland haben ein Elternteil, das inhaftiert ist. Aus Scham verschweigen sie es oft. Ein Projekt aus Berlin will Betroffenen wie dem Sohn von Enes und Dalia helfen.

Enes, Vater eines kleinen Jungen, sitzt hinter Schloss und Riegel (Symbolfoto)
Enes, Vater eines kleinen Jungen, sitzt hinter Schloss und Riegel (Symbolfoto)Imago / Thomas Eisenhuth

Als im Mai der Flieder blühte und sein Sohn geboren wurde, war Enes Yilmaz (Name geändert) nicht dabei. Auch jetzt, acht Monate später, ist er nicht da, um seinen Sohn ins Bett zu bringen, ihm etwas vorzusingen oder seine Tränen zu trocknen. Und wenn sein Kind im Frühling den ersten Geburtstag feiert, wird er nicht zu Hause sein können.

Enes ist 27 Jahre alt und sitzt seit November 2021 im Gefängnis, in der Justizvollzugsanstalt in Berlin-Moabit, zusammen mit rund 750 anderen Häftlingen. Weil er den Transport von Drogen im großen Stil organisiert hatte, wurde er vor einigen Monaten zu fünf Jahren Haft verurteilt. Seinen Sohn sah der Deutsche mit türkischen Wurzeln zum ersten Mal im Gerichtssaal beim ersten Verhandlungstermin, als dieser gerade neu geboren war.

Kinder werden oft Straftäter

100.000 Kinder in Deutschland sind – Schätzungen zufolge – jährlich von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen. In Berlin sollen es um die 4.500 sein. Um sie besser unterstützen zu können, hat der Berliner Senat jetzt eine neue „Koordinierungsstelle für Kinder von Inhaftierten“ eingerichtet. Sie soll die Unterstützungsangebote der Senatsverwaltungen für Justiz und für Familie zusammenführen und effektiver gestalten. Bundesweit gibt es bereits in fünf weiteren Bundesländern ähnliche Projekte, darunter etwa in Bayern.

„Es soll nicht mehr wie bisher Glückssache sein, ob es in unseren Anstalten für Familien entsprechende Hilfsangebote gibt“, sagt Elke Brachaus, die als Pädagogin bei der Senatsjugendverwaltung für das Projekt zuständig ist. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen sich bei mehr als zwei Dritteln der Kinder von Inhaftierten negative psychische und physische Folgen. Zudem haben sie ein erhöhtes Risiko, später selbst straffällig zu werden. Das neue Projekt will genau hier ansetzen und die Präventionsmaßnahmen verbessern, über die es laut Fachleuten noch zu wenig Wissen gibt.

Dalia (Name geändert) ist die Frau von Enes. Sie erinnert sich noch genau daran, wie es war, damals vor rund 14 Monaten, als sie morgens um sechs im Bett lag und schlief – und plötzlich die Polizei im Zimmer stand und ihren Mann zu Boden warf, um ihm Handschellen anzulegen. Sie war damals im dritten Monat schwanger. „Es war ein Schock“, erzählt die 28-Jährige in der Beratungsstelle der „Freien Hilfe Berlin“, die als Träger das neue Hilfsprojekt umsetzen soll. Hier bekommt die junge Frau von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern Unterstützung im Umgang mit der belastenden Situation. „Ich muss lernen, damit klar zu kommen“, sagt Dalia. „Ich versuche, stark zu sein. Ich habe ein Kind.“

Bis Enes das Gefängnis in Berlin-Moabit verlässt, wird es noch mehrere Jahre dauern
Bis Enes das Gefängnis in Berlin-Moabit verlässt, wird es noch mehrere Jahre dauernImago / Andreas Gora

Für die Beraterinnen und Berater ist es auch wichtig, das Thema zu enttabuisieren. Viele Betroffene schweigen aus Scham etwa Lehrern und Erzieherinnen gegenüber, die dann wiederum nicht um die mentale Belastung des Kindes wissen. Sie müssten mit ins Boot geholt werden. „Ganz viele sagen auch ihren Kindern nicht die Wahrheit. Dann wird zum Beispiel erzählt, dass Papa auf Montage ist oder Mama im Krankenhaus“, sagt Sozialarbeiterin Anja Seick von der Freien Hilfe Berlin.

Oft hätten die Inhaftierten – meistens sind es die Väter – Angst vor den Fragen, die ihre Kinder stellen: Warum sie das gemacht haben, zum Beispiel. „Ist Papa jetzt böse, weil er im Gefängnis ist?“, lautet eine kindliche Sorge, die die Beratungsstellen oft hören, erzählt Seick. Es sei wichtig, die Situation altersentsprechend zu erklären. Auch Mutter Dalia ist froh, dass ihr Sohn noch so klein ist und noch nicht weiß, dass es das Gefängnis ist, in dem er seinen Papa regelmäßig besucht. „Er ist es gewohnt, dass wir allein sind. Aber irgendwann wird er Fragen stellen.“

Wickeln ist Pflicht – einmal pro Monat

Enes ist ein Mann im grauen Trainingsanzug, mit freundlichem Gesicht. „Ich wurde mein Leben lang darauf vorbereitet, Vater zu sein“, erzählt Enes, der der älteste von drei Söhnen ist und seine kleinen Brüder gewickelt und miterzogen hat. „Jetzt bin ich Vater und sitze im Gefängnis. Das ist eine absolute Katastrophe. Ich mache mir unendliche Vorwürfe.“ Er bekommt rote Wangen, als er das erzählt: Das Thema wühlt ihn auf. Enes hat das Fachabitur und eine abgeschlossene Ausbildung, eigentlich war alles gut. Aber irgendwann ist er an die falschen Leute geraten. „Ihr Lebensstil hat mich beeindruckt. Ich konnte da sehr viel Geld verdienen.“

Von seiner kleinen Familie hat Enes im Gefängnis nicht viel. Drei Mal im Monat sieht er Frau und Kind während der Besuchszeit, überwacht von einem Justizmitarbeiter. Nur in der so genannten Kinderzeit ist er allein mit einer Beraterin der Freien Hilfe – und seinem kleinen Sohn. Das sind monatlich anderthalb Stunden, in denen Enes versucht, in dem Familienzimmer der Anstalt eine väterliche Beziehung zu seinem Jungen aufzubauen. Einmal wickeln – das ist zum Beispiel Pflichtprogramm. Manchmal liest er dem Kleinen auch etwas vor: „Aladin und die Wunderlampe“ etwa. Den Ton-Mitschnitt bekommt dann Ehefrau Dalia, damit sie die Aufnahme dem gemeinsamen Kind vorspielen kann – immer wieder. „Er soll sich an meine Stimme gewöhnen“, erklärt Enes.

Keine Vorwürfe von Dalia

„Enes ist die Liebe meines Lebens. Er ist ein guter Ehemann. Er wird auch ein guter Vater sein“, sagt Dalia mit Überzeugung. Dass sie jahrelang alles allein stemmen muss, das hat sie für sich akzeptiert. „Ich mache ihm keine Vorwürfe. Das ändert ja nichts. Ich versuche positiv zu sein: Wir sind gesund, wir haben ein Dach über dem Kopf. Irgendwann wird es vorbei sein.“