Wenn der Regen die Gedanken wegspült

Anstelle von Gottesdiensten bietet die St.-Michaelis-Gemeinde in Lüneburg vier liturgische Spaziergänge an. Unsere Autorin hat sich auf den spirituellen Weg rund um den Kreidebergsee gemacht.

Der liturgische Spaziergang führt um den Kreidebergsee
Der liturgische Spaziergang führt um den KreidebergseeMirjam Rüscher

Lüneburg. Es ist ein grauer Tag, etwas trüb und nieselig, ungemütlich. Doch das Sitzen in der Wohnung schlägt mehr auf das Gemüt als der leichte Nieselregen. Also geht es ab nach draußen. Heute steht nicht irgendein Spaziergang an, sondern einer der liturgischen Spaziergänge, die die St.-Michaelis-Gemeinde in Lüneburg ersonnen hat – als Ersatz für den Gottesdienst.

„Mit Gott unterwegs – kleine Pilgertouren zum Kraftschöpfen und Durchhalten“ heißt das neue Format, bei dem es auf bestimmten Routen durch Lüneburg und Umgebung geht. Der Spaziergang 1 startet an der mächtigen St.-Michaelis-Kirche. Ihr roter Backstein leuchtet beinahe in dem Grau.

Musik per QR-Code

Wie auf der Anleitung vorgesehen, spreche ich das Gebet vor mich hin. Oder besser, ich murmle es. „Ich gehe los. Was, wenn jeder Fleck Erde, den ich betrete, von Gott selbst gemacht ist?“ Ich scanne den angegebenen QR-Code ein und höre das kurze Musikstück, während ich mich auf den Weg mache.

Der Stein aus dem Kreidebergsee steht symbolisch für den Ballast
Der Stein aus dem Kreidebergsee steht symbolisch für den BallastMirjam Rüscher

Es geht um die Kirche herum, am Landkreisgebäude vorbei, rechts, links, rechts, links. Es geht vorbei an einem Spielplatz, zwei Kinder spielen auf den Geräten, und dann stehe ich am Anfang einer großen freien Rasenfläche, des Liebesgrundes. Die Wege gabeln sich vor meinen Füßen, bilden ein Kreuz. Ein hochgewachsener kahler Baum zieht meinen Blick auf sich.

„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …“, lese ich von der Broschüre ab. Für den Psalm 23 brauche ich keinen Text, der sitzt immer noch aus der Zeit des Konfirmandenunterrichts. Ich blicke stattdessen auf meinen Baum und in den grauen Himmel.

An etwas Schönes gedacht

„Grüne Aue“ oder „finsteres Tal“? Beim Durchqueren des Parks lasse ich die Woche Revue passieren. Zu viel geärgert, gegrübelt – das Schlechte fällt mir sofort ein. Dabei war nicht alles schlecht, ich war joggen, habe eine Pferdenase gestreichelt, mir einen Tag eine Auszeit genommen. „Hey, die Woche war sogar ganz gut“, denke ich plötzlich und lächle.

Das passt, denn mittlerweile stehe ich am Ufer des Kreidebergsees, wo ich an etwas Schönes denken soll. Ich bleibe also einfach noch etwas bei den schönen Dingen, während ich aufs Wasser blicke. Erst nach einer Weile fällt mir auf, dass ich nicht allein bin. Ein paar Spaziergänger trotzen dem Wetter.

Rauf auf den Kreideberg

Es geht links herum, die Treppe auf den Kreideberg hinauf. Nach einem kurzen Stück geradeaus halte ich inne und genieße den Blick. St. Nicolai, St. Johannis, den Wasserturm und St. Michaelis kann ich sehen. An dem eigentlich beschriebenen Aussichtspunkt ist leider alles zugewachsen. Dennoch lese ich hier den vorgegebenen biblischen Text über Paulus auf dem Aeropag.

Das Vaterunser, leise gesprochen

Ich verliere mich in Gedanken. Was sollte ich loslassen? Was beschäftigt mich? Wieder zurück am See finde ich einen Stein zwischen Enten und Gänsen. Er soll eine Last symbolisieren. Ich soll Gott von meiner Last erzählen, den Stein ins Wasser werfen – gar nicht so einfach, für all das die richtigen Worte zu finden. Ich spreche leise das Vaterunser, blicke noch einmal über den See, dann gehe ich langsam zurück. Aus dem Nieseln ist richtiger Regen geworden, er spült die Gedanken weg.