Gemerkt haben es wohl fast alle: Lebensmittel sind in den vergangenen Jahren deutlich teurer geworden. Ob Wocheneinkauf im Supermarkt oder Abendessen im Restaurant, die Preise haben überall angezogen. Laut Statistischem Bundesamt mussten die Menschen im vergangenen Jahr für die gleichen Nahrungsmittel rund ein Drittel mehr auf den Tisch legen als 2020. Für viele ist das schlicht ein Ärgernis. Für arme Menschen aber geht es an die Substanz.
„Wer sowieso schon auf vieles verzichten muss, hat wenig Spielräume, um noch mehr zu sparen“, sagte Anna-Lena Guske vom Zentrum Soziales und Beteiligung bei der Diakonie dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Nahrungsmittel sind dann eines der ersten Dinge, bei denen geschaut wird, ob man weniger kaufen kann oder sich eine günstigere Option findet.“
In Nordrhein-Westfalen hatte 2024 laut dem Statistischen Landesamt IT.NRW rund jeder achte Mensch 2024 nicht genug Geld, um sich jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit zu leisten. 13,3 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in NRW lebten in einem betroffenen Haushalt und waren nicht in der Lage, sich jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Geflügel, Fisch oder eine entsprechende vegetarische Mahlzeit zu leisten. Die Daten stammen aus dem Mikrozensus und basieren auf einer Selbsteinschätzung der Befragten.
Weitere Daten geben Hinweise darauf, wie verbreitet das Problem ist: So berichten die Lebensmittel-Tafeln von einer deutlich gestiegenen Nachfrage, inzwischen versorgen sie rund 1,6 Millionen Menschen. 11,2 Prozent der Bevölkerung – rund neun Millionen Menschen – können es sich laut Statistischem Bundesamt nicht leisten, jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder gleichwertiger Proteinzufuhr zu essen. In der kürzlich erschienenen Studie des Vereins Sanktionsfrei gaben 35 Prozent der befragten Bürgergeldbeziehenden an, dass sie auf Essen verzichteten, um andere notwendige Dinge finanzieren zu können.
Was das konkret heißt, beschreiben Betroffene eindrücklich. „Ich würde gerne Fisch oder Fleisch für mein Kind kochen, kann es mir aber nicht leisten“, berichtete jemand in der Sanktionsfrei-Umfrage. „Brauche ich Hustensaft oder ist die Hose kaputt, muss ich auf Essen verzichten“, beschrieb jemand die Situation im jüngsten „Schattenbericht“ der Nationalen Armutskonferenz.
Eine systematische Erfassung der Lage fehlt allerdings bisher. „Bei der materiellen Ernährungsarmut gibt es schon ein paar Daten“, sagte die Ernährungspsychologin Anja Simmet von der Universität Hohenheim in Stuttgart dem epd. Bekannt sei aus der Forschung, dass zuerst „Qualität oder Vielfalt“ eingeschränkt würden. „Das sind so Fälle, wo es zum Beispiel am Ende des Einkommensmonats nur noch Nudeln mit Tomatensoße gibt“, erklärte Simmet. Verschärft sich die Situation, würden „Mahlzeiten ausgelassen oder es wird schlimmstenfalls den ganzen Tag lang nichts gegessen“.
Die sogenannte soziale Ernährungsarmut hingegen „können wir bisher gar nicht quantifizieren“, sagte die Forscherin. Dabei geht es um die soziale Funktion von Ernährung. „Zum Beispiel kann es sich jemand nicht leisten, einen Kaffee mit Freunden auswärts zu trinken oder in einem Restaurant zu essen“, erläuterte Simmet. „Manche Betroffene berichten auch, dass ihre Kinder keine Freunde nach Hause einladen dürfen, weil die Familie ihnen nichts anbieten kann.“
Anna-Lena Guske von der Diakonie beschreibt das Phänomen ähnlich. „Wir kennen viele Geschichten, dass Leute zum Beispiel sagen, ich kann keine Kindergeburtstagsfeier für mein Kind ausrichten, weil ich nicht weiß, wie ich die Zutaten für den Geburtstagskuchen bezahlen soll.“
Ein von Simmet geleitetes, auf drei Jahre angelegtes Forschungsprojekt soll die verschiedenen Facetten der Ernährungsarmut nun umfassend ausleuchten. Im Auftrag der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) in Bonn sollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Hohenheim und des GESIS – Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften (Mannheim/Köln) „Ursachen, Determinanten und Auswirkungen“ erforschen und „politische Handlungsoptionen“ aufzeigen, wie es in der Ausschreibung hieß.
Sowohl Simmet als auch Guske haben den Eindruck, dass das Thema Ernährungsarmut mehr Beachtung findet als früher. „Ich kann mich erinnern, dass wir vor vielleicht acht oder neun Jahren, wenn wir das Thema angesprochen haben, auf relativ taube Ohren gestoßen sind“, berichtete Simmet. „Da wurde das Problem noch negiert. Das ist heute anders.“ Auch Guske findet, dass das Thema inzwischen mehr Aufmerksamkeit bekommt – „ganz konkret in politischen Maßnahmen drückt sich das allerdings bisher nicht aus“.