Wenn Dankbarkeit kein Gegenüber mehr hat – Kritik von Forscher

In Dankbarkeitstagebüchern soll man die positiven Dinge des Tages notieren, damit man zufriedener wird, so eine Erkenntnis der positiven Psychologie. Braucht das “Danke sagen” keinen Adressaten?

Braucht man für den Dank ein Gegenüber? Die Bezeugung von Dankbarkeit hat sich nach den Worten eines Experten im Laufe der Jahre verändert. Etwa im 18. und 19. Jahrhundert diente die Dankbarkeit vor allem der Stärkung sozialer Beziehungen, sagte Sozialwissenschaftler Jürgen Dinkel am Dienstagabend an der Universität Duisburg-Essen.

Bereits im Knigge von 1788 sei dies nachzulesen: “Undank ist das größte Laster”, schreibt damals Freiherr von Knigge in einem Erziehungsratgeber, der bis heute für gute Umgangsformen steht. Entsprechend wurde jeder Wohltäter mit einem Dank bedacht; im besten Fall wurde die empfangene Wohltat auch irgendwann erwidert.

Seit dem 20. Jahrhundert habe die Dankbarkeit allerdings immer häufiger keinen Adressaten mehr: “Man bedankt sich nicht mehr bei jemandem, sondern man dankt für etwas”, so Dinkel. Diese so genannte “kosmische Dankbarkeit” gehe ins Leere; man danke dabei weder Gott noch seinen Mitmenschen, wolle niemandem verpflichtet sein. Stattdessen diene diese Dankbarkeitskultur der Stärkung des eigenen Wohlbefindens und der eigenen Leistungsfähigkeit – was man hat, hat man sich selbst zu verdanken. Dies leiste der Einsamkeit des Einzelnen Vorschub.

Entsprechend habe die bürgerliche Dankbarkeitskultur diese Form der Dankbarkeit als “antisozial” empfunden, so Dinkel: Dankbarkeit sollte auch Stolz und Hochmut entgegen wirken und klar machen, dass man nicht alles den eigenen Leistungen zu verdanken hat, sondern auch den Wohltaten anderer.

Bis ins Bürgerliche Gesetzbuch schaffte es die Ächtung der Undankbarkeit. Bis heute kann “grober Undank” – etwa Beleidigung, Misshandlung, Tötung des Schenkers – damit bestraft werden, dass eine Schenkung rückgängig gemacht werde.

Grundsätzlich seien Dankbarkeitsbezeugungen “keine universelle anthropologische Praxis, sondern eine gesellschaftliche Geste, die gelernt und anerzogen werden muss” und die sich somit auch ändern könne, betonte Dinkel.

Dankbarkeit sei dabei nicht durchweg positiv konnotiert. Schon Aufklärer Lessing erklärte demnach, dass Dankesschulden nicht zu offensiv eingefordert werden sollten, um nicht zu beschämen. Aktivisten für Barrierefreiheit wiesen darauf hin, dass sie von ihnen verlangte Dankbarkeitsbezeugungen als bevormundend empfänden und es sich oftmals nicht um empfangene Wohltaten, sondern um ihre Rechte handele.

In der DDR etwa wurden Kinder zum Staatsdank erzogen, der auch durch Lieder öffentlich bekundet werden musste, um sie stärker an den Staat zu binden und “dem Individualismus entgegenzuwirken”. Auch die Mafia arbeite mit Dankbarkeitsstrategien. Hier werde Dankbarkeit benutzt, um Menschen zu negativem Handeln zu bewegen: Als Dank für eine empfangene Wohltat werde man gedrängt, eine Straftat zu begehen.

Dennoch funktioniere Dankbarkeit nach wie vor als sozialer Kitt, sei – wenn vielleicht auch als Floskel – im alltäglichen Leben des Einzelnen zu finden, sowohl am Arbeitsplatz als auch in der internationalen Politik. Und es gebe auch nach wie vor “authentische Dankbarkeit”, so Dinkel.

Er verwies auf die Corona-Pandemie: Damals hätten viele Menschen spontan ihre Dankbarkeit ausgedrückt, indem sie etwa dem Postboten einen Dank für die Zustellung der Briefe trotz der Pandemie aufs Straßenpflaster schrieben.