Weibliche Sicht auf den männlichen Blick

Eine junge Frau geht durch Kabul und verursacht einen Aufruhr. Um den Rumpf trägt die Künstlerin Kubra Khademi eine Art Rüstung aus Metall, die mit Brüsten und einem runden Po den weiblichen Körper nachformt. Nach dieser Performance wurde Khademi bedroht und musste Afghanistan 2015 verlassen. Jetzt sind Werke der Künstlerin im Kölner Museum Ludwig an der Seite Pablo Picassos, eines der weltweit berühmtesten Künstler zu sehen. Sie setzt den erotischen Darstellungen Picassos ihre weibliche Sichtweise entgegen.

Anlässlich des Picasso-Jahres präsentiert das Museum Ludwig ab Samstag die Ausstellung „Sammlungspräsentation: Pablo Picasso Suite 156 mit Kubra Khademi“. Damit wolle das Museum, das weltweit über die drittgrößte Picasso-Sammlung verfügt, neue Perspektiven auf dessen Werk ermöglichen, erklärt Museumsdirektor Yilmaz Dziewior. 50 Jahre nach dem Tod des Künstlers gelte es, Picasso für die junge Generation zugänglich zu machen.

Picassos Grafik-Serie „Suite 156“ umfasst Radierungen aus den Jahren 1968 bis 1972. Es handelt sich um den letzten druckgrafischen Zyklus des Künstlers. Eine Druckplatte des Zyklus ging verloren, so dass die Suite statt der geplanten 156 nur 155 Blätter umfasst. Im Fokus stehen erotische Themen, für deren Darstellung Picasso (1881-1973) auf Vorbilder und Sujets der westlichen Kulturgeschichte zurückgriff.

Schauplätze der Darstellungen sind etwa Bordell, Zirkus oder Theater. Es geht um Liebe, Sterblichkeit oder auch die Beziehung zwischen Künstler und Modell. Dabei bezieht sich Picasso auf Protagonisten der Kunstgeschichte wie etwa Rembrandt, Éduard Manet, Edgar Degas oder Eugène Delacroix. – Ein rein männlicher Blick auf den weiblichen Körper also.

Um die Perspektive Picassos zu erweitern, stellte Kuratorin Eboa Itondo ihm neben Kubra Khademi auch ein Kollektiv von Zeitgenossinnen zur Seite. Als Picasso an seiner Suite arbeitete, entstand zeitgleich in seiner Wahlheimat Frankreich das feministische Magazin „Le torchon brûle“ (Das Geschirrtuch brennt). Das von einer Gruppe Pariser Künstlerinnen und Aktivistinnen herausgegebene Blatt forderte Gleichberechtigung und Selbstbestimmung für Frauen.

Während Picasso seine Radierungen mit zahlreichen Abbildungen weiblicher Geschlechtsteile schuf, erschien in „Le torchon brûle“ ein Artikel über die Macht der Vulva mit den entsprechenden Abbildungen. Für Herausgeberin Marie Dedieu hatte das Folgen. Sie wurde wegen sittenwidrigen Verhaltens angeklagt. Picasso hingegen blieb trotz seiner expliziten Darstellungen unbehelligt. Die Kölner Ausstellung, die bis zum 4. Februar zu sehen ist, lässt nun Picassos feministische Zeitgenossinnen zu Wort kommen. Sie zeigt Grafiken sowie Textbeiträge des Magazins, in denen Besucherinnen und Besucher blättern können.

Picasso greift für seine „Suite 156“ auf Motive der Kunstgeschichte, auf persönliche Erinnerungen und antike Mythen zurück. Der rote Faden, der die Blätter verbindet, ist die Darstellung des Begehrens. So ließ sich Picasso zum Beispiel für Blatt 10 von Rembrandts Radierung „Ecce Homo“ aus dem Jahr 1655 inspirieren. Rembrandts Radierung stellt eine Szene aus der Passion dar. Pontius Pilatus präsentiert Jesus dem Volk und lässt es entscheiden, ob er den Messias oder einen Verbrecher freilassen soll. Der Mob entscheidet sich für den Verbrecher. Picasso sieht in der Szene die Macht der Verführung und stellt den Protagonisten erotische Figuren zu Seite. Auch seine Ehefrau und frühere Partnerinnen tauchen in dem Bild auf.

Besondere Bedeutung hatte für Picasso Edgar Degas (1834-1917), dessen Bordell-Monotypien er sammelte. Picasso schätzte ihren Realismus. Nach seiner Interpretation stellten sie Sex als treibende Kraft der Gesellschaft dar. Degas taucht als Figur immer wieder in Picassos Radierungen auf. Konfrontiert mit Frauen in erotischen Posen hält er stets die Hände in den Hosentaschen oder hinter dem Rücken versteckt. So scheint er für die Unterdrückung sexueller Begierde zu stehen.

Picassos „Suite 156“ ist Teil der Museumssammlung, aber nun erstmals komplett im Museum Ludwig zu sehen. Kubra Khademi hat sich mit dem Grafik-Zyklus beschäftigt und setzt ihm nicht nur eine weibliche, sondern auch eine außereuropäische Perspektive entgegen. Die 1989 geborene afghanische Künstlerin visualisiert in ihren Eselsdarstellungen die weibliche Sicht auf erotische Themen. Das Motiv des Esels symbolisiert in der persischen Mythologie Kraft und Potenz. Es wurde von afghanischen Frauen übernommen, um über sexuelles Begehren zu sprechen. Khadimis gefilmte Performance mit der weiblichen Rüstung ist in der Ausstellung über einen QR-Code mit dem Smartphone abrufbar.