Weggesperrt und zur Arbeit gezwungen
Es galt als Dienst der Nächstenliebe, war aber nicht minder ein Geschäftsmodell: Von 1934 an kümmerte sich die diakonische Reutlinger Gustav Werner Stiftung um Menschen, die als „arbeitsscheu“ oder „asozial“ galten. Nach der Weltwirtschaftskrise hatte das evangelische Sozialwerk neue Einnahmen bitter nötig. Dass bei dieser Form der Sozialarbeit Menschen entmündigt, ihrer Freiheit beraubt und zur Arbeit gezwungen wurden, rührte vor 90 Jahren nur wenige Gewissen. Am Freitag wurde in Münsingen-Buttenhausen bei Reutlingen eine Studie vorgestellt, die die Zwangseinweisung von Menschen in der diakonischen Einrichtung zwischen 1934 und 1959 unter die Lupe nimmt.
Die BruderhausDiakonie bat bei der Veranstaltung Betroffene um Verzeihung, die in ihren Einrichtungen Zwangsarbeit leisten mussten. „Was geschehen ist, bedauern wir sehr“, sagte der Theologische Vorstand des Sozialunternehmens, Bernhard Mutschler. Bei einer Andacht wurde in Buttenhausen eine Gedenktafel enthüllt, die dauerhaft an das Schicksal der Zwangseingewiesenen in der diakonischen Einrichtung erinnert.
Der Autor der neuen Studie, Sebastian Wenger vom Institut für Geschichte der Medizin des Bosch Health Campus, stellte bei der Veranstaltung zentrale Inhalte seiner Arbeit vor. Demnach versuchte der NS-Staat Menschen, die als „asozial“, „arbeitsscheu“ oder „verwahrlost“ eingestuft wurden, durch Zwangseinweisungen in geschlossene Einrichtungen aus der Gesellschaft zu entfernen und durch eine Arbeitspflicht zu resozialisieren. Das System setzte sich Wengers Ausführungen zufolge nach Ende der NS-Zeit fort und wurde erst durch ein Bundesverfassungsgerichtsurteil 1967 beendet.
Die Stadt Stuttgart und die Reutlinger Gustav Werner Stiftung, die später in der BruderhausDiakonie aufging, arbeiteten bei der Unterbringung der Zwangseingewiesenen eng zusammen. Zunächst richtete die Diakonie 1934 in Göttelfingen bei Freudenstadt ein Lager ein, dann 1935 in Buttenhausen. Zwangseingewiesen wurden Bettler, Wohnungslose, Alkoholiker, verwahrloste Jugendliche, Prostituierte und Frauen mit abweichendem Sexualverhalten, berichtete Wenger. Die Betroffenen stammten vor allem aus Stuttgart und Frankfurt am Main.
Das Arbeitslager in Buttenhausen war ursprünglich für rund 100 Menschen konzipiert, nahm aber im Zweiten Weltkrieg zu Spitzenzeiten bis zu 300 Männer und Frauen auf. Bewaffnete Männer sorgten mit Wachhunden dafür, dass niemand die Einrichtung verließ. Es habe sich um eine „Vorstufe der Konzentrationslager“ gehandelt, zitierte Wenger einen anderen Historiker. Bis 1945 sind Schätzungen zufolge rund 1.600 Menschen in Buttenhausen untergebracht gewesen.
Wer als „asozial“ galt, sei von den Akteuren in Politik, Fürsorge und Medizin immer wieder „an ihre Zwecke angepasst“ worden, sagte Wenger. Zwangsarbeit musste dann vor allem in der Landwirtschaft, im Forst und beim Wegebau geleistet werden, während des Zweiten Weltkriegs auch in Rüstungs- und Papierfabriken.
Den Bewohnern des Lagers in Buttenhausen sei es vergleichsweise gut gegangen. Sie hätten aufgrund der angeschlossenen Landwirtschaft selbst in Kriegszeiten ausreichend zu essen gehabt und seien medizinisch versorgt worden. Paul Stäbler, der Leiter der Einrichtung, habe sich zwar zum System der Zwangseinweisungen bekannt, sei aber nie Mitglied einer nationalsozialistischen Organisation gewesen. Auch hat er laut Wenger die ihm anvertrauten Bewohner vor der Ermordung im zehn Kilometer entfernten Grafeneck geschützt, wo die Nationalsozialisten mit ihren „Euthanasie“-Morden begannen. Körperliche Gewalt gegen die Eingewiesenen war tabu. (2187/27.09.2024)