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Was ständiges Kreisen um sich selbst mit Beziehungen macht

Selfcare boomt – und wird mitunter auch zur Ausrede. Fachleute sehen darin eine Gefahr für das Miteinander, zumal in einer Zeit von großer Einsamkeit. Sie erklären, warum Nähe oft gesünder ist.

Eine Freundin klagt über die Vorbereitungen, die sie als Gast für eine Hochzeit noch treffen muss: Kleid kaufen, Hotel buchen, Geschenk kaufen. Ein Vereinskamerad will partout nicht mittwochs entscheiden, ob die anderen ihn zum Spiel am Samstag einplanen können. Und auf Instagram finden beide dafür auch gute Gründe: Man müsse auf sich selbst achten, andere wollten schließlich schon genug von einem. Abgrenzen in zehn Schritten, #Selfcare.

Diesen Trend beobachtet Gitta Jacob mit Sorge. Denn hinter dem Ruf nach Abgrenzung steckt meist ein bestimmtes Empfinden. Und Gefühle, das erklärt die Hamburger Psychotherapeutin anschaulich in ihrem soeben veröffentlichten Buch “Zu viel Gefühl”, könnten unterschiedlichste Quellen haben. Neben Hormonschwankungen und Erkrankungen spielt auch das Temperament eine Rolle dafür, wie es einem so geht, ebenso das Tageslicht, Schlafqualität und Bewegung, soziale Kontakte.

Ein weiterer Faktor ist die sogenannte soziale Ansteckung – Gefühle, die im eigenen Umfeld erlebt werden, springen leichter über. Und: “Wenn ich mich mit einem Gefühl immer und immer wieder beschäftige, werde ich es immer häufiger erleben”, mahnt die Autorin im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). In ihrer täglichen Arbeit begegneten ihr zunehmend Menschen, die “nach bestem Wissen und Gewissen ergründet und untersucht haben, woher ihre Gefühle kommen – doch es geht ihnen nicht besser, sondern eher schlechter”.

Für das Überleben seien negative Gefühle – evolutionsbiologisch betrachtet – stets wichtiger gewesen als positive, erklärt Jacob: “Daher fällt es unserem Gehirn noch heute leichter, Gefahren zu erkennen, als sich an einem Schmetterling zu erfreuen.” Dies verstärke jedoch zusätzlich, wer allzu viel in sich hineinhorche, Sorgen zu viel Raum gebe oder ständig darauf fokussiere, wo jemand anderes vielleicht etwas unabsichtlich Verletzendes gesagt habe.

Nicht jede Krise hat Krankheitswert – das betonen viele Fachleute. Doch für ein Umdenken seien nicht nur Einzelne gefragt, sondern auch die Gesellschaft: “Mir ist wichtig, dass wir unsere Annahme hinterfragen, Menschen seien entweder psychisch gesund oder gestört”, sagte die Polizeipsychologin Birgitta Sticher jetzt der Zeitschrift “Psychologie Heute”. Beispielsweise im Studium gebe es gleich mehrere schwierige Aufgaben zu bewältigen: die Loslösung vom Elternhaus, den Aufbau neuer Beziehungen und den Umgang mit der Frage, wer sie selbst sein wollten. “Wenn man dann depressiv reagiert oder Ängste entwickelt, heißt das nicht, dass man psychisch krank ist.”

Solche Krisen wahrzunehmen, sei um so wichtiger, betont Sticher: Dann ließen sich weitere Fähigkeiten erwerben, um damit angemessen umzugehen. Für Jacob gehört dazu eine grundlegende Einsicht, nämlich: “Jedes Leben hat auch mal schwierige Zeiten, man fühlt sich selten ‘perfekt’, sondern ist auch mal unglücklich, ängstlich oder unsicher. Erst wenn daraus ein Dauerzustand wird, sollte man näher hinsehen.”

Die Freundin, die tagelang nicht auf eine wichtige Nachricht reagiert – oder der Vereinskamerad, der nicht planen möchte: “Sie lassen andere einsam und frustriert stehen”, kritisiert Jacob. Wenn es jemandem in einer depressiven Phase schwerfalle, sich zu Aktivitäten aufzuraffen, sei das etwas ganz anderes als die Haltung: “Ich verpflichte mich nicht, ich schaue lieber spontan, wie mein Bauchgefühl ist.”

Doch “null Bock” zu haben, sei nicht behandlungsbedürftig. “Die allermeisten würden wohl gern manchmal spontan auf den Flohmarkt gehen, statt die Sporttasche zu packen, zur Chorprobe zu kommen oder der zugesagten Einladung zu folgen. Dabei hat man nachher beim Sport oder im Chor viel Spaß, wenn man sich mal dorthin aufgerafft hat.”

Diejenigen, die diesem Impuls nachgäben, Zusagen nicht einhielten oder einfach gar nicht erst gäben, würden aber anderen “toxisches” Verhalten vorwerfen – “dabei ist solche Unzuverlässigkeit wirklich Gift”. Jacob sieht darin mehr als Einzelfälle: “Vor zehn Jahren habe ich noch viel mit Abgrenzung gearbeitet, und natürlich gibt es auch heute noch Menschen, die sich wirklich für andere überlasten. Doch es werden weniger.”

Zudem bringe man sich selbst um die Chance, mit anderen eine schöne Zeit zu verbringen, gibt die Expertin zu bedenken. Dabei ist aus der Glücksforschung bekannt, dass die freudvollsten Momente oft im Austausch entstehen. “Wenn man anfängt, auf die Menschen um sich herum zu achten, bekommt man eine andere Perspektive auf seine eigenen Probleme”, erklärt der Entwicklungspsychologe Bruce Hood in der “Psychologie Heute”. Das Verhältnis zwischen Egozentrismus und der Zuwendung zu anderen müsse daher ausgewogen sein.

Unterstützende, wohlwollende Menschen – sie können sogar dann positiv wirken, wenn sie gar nicht persönlich anwesend sind, fügt Jacob hinzu. Ihre Lieblingsübungen unter den vielen, die sie im Buch vorstellt, sei das “Hilfs-Ich”. Die Autorin nennt ein Beispiel: “Wenn mir ein Konfliktgespräch schon vorab Bauchschmerzen bereitet, kann ich mich fragen: Wer würde damit entspannter umgehen, wer hat in dieser Situation einen geraden Rücken?” Von diesen Stärken des Lieblingskollegen oder der Tante könne man sich dann etwas abschauen, sich vielleicht auch vorstellen, die Person stünde neben einem: “So lerne ich selbst ein neues Verhalten – und einen konstruktiven Umgang mit schwierigen Momenten.”