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Was Selbstdisziplin mit Selbstliebe zu tun hat

Mehr Sport, gesündere Ernährung oder mehr Zeit für die Familie: Mit dem Start des neuen Jahres nehmen sich viele etwas vor. Experten erklären, wie man es schafft, die guten Vorsätze einzuhalten.

Bereits die ersten Schritte in der Einrichtung des Kolpinghauses in Krefeld haben damit zu tun, mehr Selbstdisziplin aufzubauen. Ein Stuhl wird in die Mitte der Gruppe gestellt und die Person, die darauf sitzt, teilt etwas mit. Die Entscheidung, in der Gruppe etwas anzusprechen, setze die Signale “ich schaffe es, ich habe den nötigen Mut”, erklärt Sozialpädagoge und Geschäftsführer, Uwe Zurhorst. Ein erster Impuls.

“Selbstdisziplin bedeutet, mein Denken, Fühlen und Handeln jetzt zu kontrollieren, sodass ich etwas tue, was mir mittel- und langfristig nutzt, im Moment aber unangenehm ist”, definiert der Psychologe und Professor an der Technischen Universität Rosenheim, Florian Becker. Wer keine Selbstdisziplin hat, der gibt immer dem Augenblick nach: Die Sonne scheint, es ist angenehm mit den Freunden rauszugehen, Spaß zu haben. Selbstdisziplin ist dafür nötig, sich zu sagen: “Andererseits schreibe ich eine Klausur und muss noch lernen. Mein Bildungserfolg ist mir wichtig.”

In der stationären Jugendhilfeeinrichtung “Jugendwohnheim Kolpinghaus” leben Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 21 Jahren. “Wir arbeiten hier mit den jungen Menschen, um sie dabei zu unterstützen, sich zu verselbstständigen und in eigene Wohnungen zu ziehen”, erklärt Zurhorst. Die Bewohner kommen aus Krefeld und dem Umland und waren häufig wohnungslos oder von Wohnungslosigkeit bedroht. Sie haben es meist in ihren Familien nicht mehr ausgehalten. Die Einrichtung will den jungen Leuten eine bessere Zukunft ermöglichen, indem sie wieder zur Schule gehen, eine Ausbildung oder eine Maßnahme des Arbeitsamts aufnehmen. Dafür wird ihnen je nach Situation bis zu drei Jahren Zeit gegeben.

“Wir nehmen Leute auf, die es zu Hause nie gelernt haben, pünktlich aufzustehen, vielleicht von den Eltern auch nie geweckt wurden”, erklärt Zurhorst. Die Bewohner müssen Selbstdisziplin dafür aufbringen, sich eine feste Tagesstruktur anzueignen. Das heißt, am Morgen aufstehen und zum Frühstück in der Küche erscheinen. Dabei unterstützen Betreuer oder auch andere Bewohner und wecken Volljährige, wenn gewünscht. Minderjährige werden geweckt und müssen zum Frühstück gehen. Auch diejenigen, die es zu Hause nicht kennengelernt haben zu frühstücken, könnten etwa einen Kakao trinken, wenn sie nichts essen wollten, so Zurhorst – eine Morgenroutine bis zum Start in die Schule.

Von Selbstdisziplin hängt sehr viel ab. “Studien belegen, dass sie sogar mehr als ein Drittel des Bildungserfolgs ausmacht”, ordnet Wirtschaftspsychologe Becker ein. Sie präge außerdem Gesundheit wie auch Freundschaften eines Menschen. Die Form der Selbstfürsorge habe positive Auswirkungen auf Einkommen, Lebenserwartung und sogar auf Glück im Leben. Denn immer den bequemen Weg zu gehen, mache nicht glücklich. Im Gegenteil: Menschen, die immer nachgeben, haben ein höheres Risiko Gewalt zu erleben. In den Studien finden sich außerdem Zusammenhänge mit Substanzmissbrauch, Kriminalität, Überschuldung und riskantem Sexualverhalten.

Die Betreuer und Betreuerinnen der Jugendhilfeeinrichtung zeigen immer wieder Möglichkeiten für ein Weiterkommen auf. Beispielsweise für Schulverweigerer werden Alternativen gesucht, berichtet Sozialpädagoge Zurhorst. Neue Ziele und Teilschritte dann gemeinsam festgelegt. Diese zu erreichen erzeuge Stolz, was wiederum die Selbstdisziplin stärke. Wichtig sei vor allem zu verinnerlichen: “Ich tue es nicht für die anderen, sondern ich tue es für mich, und für mich ist das auch ganz wichtig”, betont Zurhorst. Im Kolpinghaus gibt es ein Belohnungssystem, dass dieses Denken unterstützt. Alle ziehen zuerst in einem kleinen Zimmer ein. Wer seine Aufgaben erfüllt und seine Ziele erreicht, darf dann in ein größeres Zimmer mit eigenem Bad ziehen.

Unterstützend wirkt auch, wenn ein Teil der Gruppe dies vorlebt. Eine positive Erfahrung sei gewesen, als minderjährige Geflüchtete in der Einrichtung aufgenommen wurden, erzählt Zurhorst. Ihr Ziel schnell die deutsche Sprache lernen zu wollen, habe die deutschen jungen Menschen motiviert, auch weiterkommen zu wollen. Die Geflüchteten treibe oft die Angst an, berichtet Zurhorst: “Wenn ich keine Ausbildung nachweisen kann, dann könnte die Abschiebung wieder drohen.” Selbstdisziplin schöpfen einige aus ihrer Religion: Muslimischen Bewohnern ist der Ramadan sehr wichtig, sie halten die Fastenzeit konsequent durch. “Die meisten Religionen haben ein Glaubens-System, was einen schon dazu bringt, im Moment ‘nein’ zu sagen, um ein langfristiges höheres Gut zu erreichen”, erläutert Becker. Beispielsweise gebe es im Christentum die Beschreibung des steinigen oder des einfachen bequemen Weges. “Das heißt, ich muss jetzt etwas opfern, damit ich in Zukunft mehr habe oder es mir besser geht”, erklärt der Psychologe.

Selbstdisziplin sei aus der Mode gekommen, teils ignoriert oder auch verächtlich betrachtet. “Aus meiner Sicht eine der am weitesten unterschätzten Tugenden”, sagt Becker. Er bekomme in sozialen Medien mitunter auch negative Reaktionen zu Posts darüber, dass Selbstdisziplin etwas Gutes sei; manchmal sogar regelrechten Hass in Kommentaren. Dabei gehe es genau um das Gegenteil, nämlich um Liebe – zu sich selbst.