Was Musik bewirkt

Eine Netzhauterkrankung lässt ihn immer mehr erblinden. Trotzdem geht Simon Bellett neue Wege: bei einem Glocken-Quiz über WhatsApp oder Online-Konzerten.

Simon Bellett
Simon BellettEmily Rissiek

Bremerhaven/Stade. Eigentlich sollte in Beverstedt Konfirmation gefeiert werden, doch aufgrund der aktuellen Situation wurde auch diese Feier abgesagt. Dennoch hat sich Simon Bellett bereit erklärt, ein Kirchenkonzert zu geben und es online zu übertragen. „Das war für mich keine Frage!“, so der aus Yorkshire stammende Musiker, der seit 1995 in der Elbe-Weser­-Region Fuß gefasst hat. ­Neben Konzerten und Musikunterricht ist der Engländer auch in das kirchliche Leben in Bremerhaven eingebunden. Manchmal führen ihn die Wege auch nach Stade oder Osterholz-Scharmbeck oder zum Deichbrandfestival nach Cuxhaven.

Das Online-Kirchenkonzert ist nur eine weitere Herausforderung. Denn Retinitis Pigmentosa, eine erbliche Augenerkrankung, lässt Bellett – wie auch seine Schwester – zunehmend erblinden. „Jahr für Jahr schränkt sich das Gesichtsfeld ein, und es schließen sich Türen. Autofahren ist für mich schon lange Geschichte“, berichtet Bellett. „Irgendwann fiel das Notenlesen ganz weg, und seit ein paar Jahren erkenne ich keine Gesichter mehr.“ So achtet er inzwischen sehr auf die hörbaren Dinge und ist dankbar für jede neue Tür, die sich ihm öffnet.

Premiere vor leerem Saal

Die sich derzeit verändernde Gegenwart erleben Simon Bellett und seine Frau, die ihn häufig bei Auftritten mit Lesung und Gesang begleitet, daher besonders intensiv: „Ob Homeoffice oder Skype-Unterricht: Corona zwingt uns dazu, neue Wege zu gehen. Weltweit schwenken Menschen auf die Möglichkeiten des Internets um.“

Auch Bellett und seine Frau haben diese Erfahrung bereits gemacht – sie gaben ihr letztes Konzert vor Publikum im März. „Dann folgte die Premiere im April: Es war ein Online-Konzert im Theater im Fischereihafen von Bremerhaven!“ Das war schon etwas merkwürdig und ungewohnt in einem großen Saal, ohne die Leute, die durch ihre Anwesenheit das Konzert – oder auch die Gottesdienste mit ihrem Gesang – zum Gemeinschaftserlebnis machen.

Auch beim „Kirchenglocken-Quiz“ macht Bellett sich seit einiger Zeit die Technik zunutze. „Es war 2007, ein junger Mann sitzt am Keyboard in meinem Musikstudio“, erinnert er sich an einen Musikschüler. Sie hatten die Unterrichtsstunde gerade für einen Moment unterbrochen, um Noten auszudrucken, da hört Bellett eine Tonfolge vom Keyboard und fragt: „Was spielst du da?“ – „So klingen die Kirchenglocken in Blumenthal“, kommt die überraschende Antwort. „Das sind die Töne – so läuten die Glocken dort.“ Fasziniert und beeindruckt, habe er ihm erklärt, dass er offensichtlich ein absolutes Gehör hat.

So vergehen die Jahre, der Schüler kam weiterhin in unregelmäßigen Abständen zum Unterricht. „Sein Faible für Kirchenglocken bekomme ich nur am Rande mit, bis ich 2017 ein geplantes Konzert auf Helgoland erwähne.“ Ein paar Wochen später ist es so weit: Bellett steht vor dem Gotteshaus auf dem Oberland der Hochseeinsel.

Die Glocken von Helgoland

Tatsächlich läuten gerade die besagten Glocken. „Spontan ziehe ich mein Telefon aus der Tasche und schicke meinem Schüler eine Audio-Aufnahme und frage ,Wo bin ich?‘“, erzählt Bellett. Kurze Zeit später „pingt“ es: „Du bist auf Helgoland.“ „Na – so schwer war das nun wirklich nicht, das Konzert war ja angekündigt“, dachte er sich damals.

Doch die Idee des „WhatsApp-Glocken-Quiz“ war geboren. „Mein Schüler nimmt die Herausforderung gern an, und die Technik macht es möglich.“ Über die nächsten Monate habe er ihm immer wieder Glockenaufnahmen mit derselben Frage geschickt. Mit jedem Austausch von Nachrichten lernte Bellett selbst dazu. Und auch der Schüler ging weiter seinen Weg, leitet mittlerweile einen kleinen Chor.

Alles anders

In dieser Zeit ist nun alles anders, und doch geht es irgendwie weiter. „Gestern bekam ich eine WhatsApp-Nachricht von einer Frau, die in der Nähe einer Kirche wohnt.“ Eine Glockenaufnahme. „Ich freute mich und konnte es mir natürlich nicht verkneifen, die Aufnahme an meinen Schüler weiterzuleiten“, sagt Bellett und lacht. Keine fünf Minuten später hörte er die vertraute Stimme: „Das kann nur die Klosterkirche in Neuenwalde sein. Aber du bist doch nicht vor Ort, oder?“

Nein, heutzutage muss man nicht unbedingt vor Ort sein. Denn es geht Simon Bellett bei seiner Arbeit nicht nur um die Musik: „Es geht vor allem auch darum, was Musik bewirkt, was man mit Musik alles machen kann!“