Warum ist die Kirche sonntags nur so leer?

Voll besetzt sind die meisten Kirchen nur zu Weihnachten oder Ostern. Was muss sich ändern, damit mehr Besucher zum Gottesdienst kommen? Frank Puckelwald, Fachmann für Spiritualität im Gemeindedienst, über Konzepte, die gescheitert sind, und solche, die hoffentlich funktionieren.

Mit viel Abstand wird künftig Gottesdienst gefeiert (Symbolbild)
Mit viel Abstand wird künftig Gottesdienst gefeiert (Symbolbild)Jens Schulze / epd

Gottesdienst ist das Zentrum der Gemeinde, heißt es oft. Sie sagen: Nein, da geht mir der Hut hoch. Warum?
Ich finde das theologisch falsch. Gottesdienst ist nicht das Zentrum der Gemeinde, Christus ist das Zentrum der Gemeinde. Die Frage ist: Wo in der Gemeinde kommen wir um Christus zusammen, wo wird Christus erfahren? Dass es einen Schwerpunkt auf den Sonntagsgottesdienst gibt, empfinde ich einfach als eine Irreführung.
Lässt sich das für die Nordkirche belegen?
Das ist lokal sehr unterschiedlich. Da gibt es ein Stadt-Land-Gefälle, ein West-Ost-Gefälle. Wir haben in Schleswig-Holstein Orte, an denen über 70 Prozent noch in der Kirche sind, im Hamburger Stadtteil St. Georg sind es 18 Prozent evangelische Christen. Der Gottesdienst ist aber auch in den Orten mit hoher Kirchenmitgliedschaft nicht wesentlich stärker besucht als anderswo. Statistisch noch aus alten nordelbischen Zeiten wissen wir, dass der normale Gottesdienst von drei bis fünf Prozent der Gemeindeglieder besucht wird. Das heißt, 95 Prozent der Gemeindeglieder sagen: „Damit kann ich nichts mehr anfangen“; beziehungsweise: „Da gehe ich nicht mehr hin“, aus welchem Grund auch immer.
Gibt es Untersuchungen zu diesen Gründen?
Wir haben ja schon alle möglichen Untersuchungen zu diesen Gründen gehabt. Da wurde gefragt , was es heißt, Kirche in einer Erlebnisgesellschaft zu sein. Untersucht wurden die Milieus. Da kann man sehr deutlich sehen, dass es gerade im städtischen Bereich in dem Milieu, das wir Bildungsbürgertum oder Kulturprotestantismus nennen, schon eine Kontinuität gibt beim Gottesdienstbesuch derer, die ihre Bach-Kantate, ihre geschliffene Predigt hören wollen. Das große, wahrnehmbare Sterben an Gottesdienstbesucherzahlen ist in Hamburg beispielsweise ganz klar in den städtischen Randgemeinden wie Billbrook, Barmbek oder Stellingen festzustellen, wo am Sonntag nicht einmal mehr drei Prozent kommen.
Was muss sich ändern?
Nur über eine Änderung der Form des Gottesdienstes ist ein besserer Besuch auch nicht hinzubekommen. Es ist also zu kurz gegriffen, wenn behauptet wird, die Krise des Gottesdienstes sei die Krise des ganz normalen, agendarischen Sonntagsgottesdienstes um 10 Uhr. Die Erwartungshaltungen sind einfach sehr unterschiedlich. Die einen wollen das Vertraute, die anderen Farbigkeit und Aktion, die einen wollen feiern, die anderen eine anspruchsvolle Predigt hören.
Hier sind Metropolregionen schlicht besser aufgestellt, weil die Leute dort in einem überschaubaren Raum sehr viele unterschiedliche Angebote haben. Die Epiphaniengemeinde Hamburg-Winterhude ist zum Beispiel berühmt dafür, dass dort immer ganz Experimentelles passiert. Darum erfährt sie eine hohe Aufmerksamkeit, die sich weit über den Stadtteil hinaus erstreckt.
Nun ist aber Norddeutschland in großen Teilen ländlich geprägt. Was können solche Gemeinden, die „Alleinanbieter“ sind, machen, um mehr Gottesdienstbesucher anzuziehen?
Zentral ist: Tut das, was ihr liebt, und tut das, was euren Gaben entspricht. Das ist der Schlüssel. Wer sagt, das Liturgische ist nicht so meins, sondern eher das Kommunikative, der sollte dann auch bei Familiengottesdiensten oder Ähnlichem einen Schwerpunkt setzen. Und: Muss es wirklich jeden Sonntag einen Gottesdienst geben, oder ist es vielleicht sogar besser, mit gesammelter Energie eine Gottesdienstfeier einmal im Monat vorzubereiten, die dann auch eine höhere Aufmerksamkeit erfährt?
In Thüringen gab es eine Umfrage von Tür zu Tür in einer dörflichen Region, also nicht nur bei den Gemeindegliedern, welche Gottesdienste die Menschen wichtig finden. Es kam heraus, dass sechs Gottesdienste im Jahr wichtig waren: Advent, Weihnachten, Ostern, Sommeranfang/Johanni, Erntedank, Totensonntag. Da war ein hohes Interesse. Daraus wurde der Schluss gezogen: Wir bieten normalerweise verschiedene Andachtsformen an, dafür aber gibt es dann ein paar Mal im Jahr etwas vom Feinsten. Das ist dann auch noch fester in der Bevölkerung verankert, weil es Schnittstellen hat, die mit dem Naturjahr verbinden.
Soll eine Gemeinde lieber weggehen von der Konzentration auf den Sonntagsgottesdienst und ihre Kraft in Angebote im Alltag stecken – bis hin zu einem liebevoll gestalteten Raum der Stille?
Das kann eine Konsequenz sein. Aber auch da gibt es keinen Königsweg. Helge Adolphsen hat auf einem der Kirchenbautage gesagt: „Gebt den Dörfern ihre Kirchen wieder zurück“. Die Kirche steht meist mitten im Ort und sie steht für mehr als nur für die Konfession. Sie steht symbolisch auch für das, was uns zusammenführt und uns zusammenhält. Es gibt ja auch Kirchbauvereine, in denen etliche Mitglieder nichts mit der verfassten Kirche zu tun haben, die aber sagen: Uns ist dieses Gebäude sehr wichtig, es ist Teil unserer Geschichte, unserer Kultur. Diesen Ort zu öffnen, zu beleben mit den anderen, das wäre eine Spur. Eine andere wäre, eine alltagstaugliche Spiritualität zu fördern – also den Ort so zu gestalten, dass er eine Begegnung mit dem Heiligen ermöglicht. Bei katholischen Kirchen ist es ganz üblich, durch den Tabernakel anzuzeigen: Christus ist hier. Und dann geht man auch dorthin, denn dort ist das Heilige, da kann ich mein Herz ausschütten, eine Kerze anzünden. Da können wir Evangelische noch viel lernen.
Ich habe sogar den Eindruck, dass dieses „Katholische“ auch von uns Evangelischen immer stärker abgefordert wird, gerade auch von den Kirchenfernen. Da sollen Häuser, Autobahnen, Felder und Tiere gesegnet werden. Ist eine bessere Inszenierung des Religiösen die richtige Antwort auf die Krise des Gottesdienstes?
Ich würde dies nicht so benennen, sondern fragen: Was haben wir verloren von dem, was eigentlich zentral zu unserem geistlichen Handeln gehört? Segnen gehört zentral mit dazu. Es geht nicht darum, sich von der katholischen Kirche abzusetzen, sondern zu fragen: Was sind die Existenzialien, die wir geistlich aufnehmen? Da wird natürlich nicht das Feuerwehrauto gesegnet, sondern der Dienst dieser Menschen an der Allgemeinheit – mit diesem Instrument Auto.
Inzwischen gibt es ja eine Reihe an Gottesdienstformen: Thomasmessen, Taizé-Gottesdienste, Willow-Creeck und vieles mehr. Stimmt mein Eindruck, dass wir uns seit Langem mühen, aber nicht von der Stelle kommen?
Wichtiger ist die Sehnsucht nach Lebendigkeit, die Lust, etwas zu machen. Die Idee, dass sonntags um 10 vor 10 die Glocken läuten und alle strömen zusammen, die entspricht nicht mehr unserer Lebenswirklichkeit und unserer zeitgeschichtlichen Situation. Angesichts der vielen Lebensformen müssen wir uns als Kirche fragen: Wie nehmen wir dies ernst und geben dieser Vielfalt auch Raum? Taizé, agendarisch, Lobpreis, hochliturgisch – die Vielfalt hat ihre Berechtigung. Und: Keiner kann alles machen, Kollege X und Gemeinde Y stehen für bestimmte Teile des Ganzen.
Das Interview führte Pastor Tilman Baier, Chefredakteur der Kirchenzeitung in Schwerin.