„Vorläufer aller Roten“ – Ausstellung zeigt politischen „Struwwelpeter“

Es ist das erste deutsche Bilderbuch und international ein Bestseller: der Struwwelpeter. Das Buch handelt aber nicht nur von Manieren. In der Revolutionszeit um 1848 wurde es politisch verstanden.

Der Arzt Heinrich Hoffmann schrieb den Struwwelpeter für seinen dreijährigen Sohn
Der Arzt Heinrich Hoffmann schrieb den Struwwelpeter für seinen dreijährigen SohnImago / Bike

Der Kerl auf dem Sockel hat eine ungezähmte Löwenmähne und ellenlange Fingernägel. Der Struwwelpeter übte eine Faszination auf die Zeitgenossen seines Autors Heinrich Hoffmann (1809-1894) und auf folgende Generationen aus. Der Frankfurter Arzt und Psychiater zeichnete und dichtete die Geschichten 1844 als Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn. Gedruckt 1845 von dem Verlag „Literarische Anstalt“, der im selben Jahr auch Karl Marx und Friedrich Engels verlegte, wurde das Buch ein Riesenerfolg.

„Der Struwwelpeter wurde als politisches Buch zwischen Anpassung und Auflehnung gelesen“, sagt die Leiterin des Struwwelpeter-Museums in Frankfurt am Main, Beate Zekorn-von Bebenburg. „Die rebellischen Charaktere trafen den Nerv der Zeit“. Das Museum in der neu erbauten Altstadt zeigt anlässlich des 175-Jahre-Jubiläums des Revolutionsversuchs von 1848 die Ausstellung „Struwwelpeter als Radikaler. Politische Karikaturen der Paulskirchen-Zeit“. Sie präsentiert Texte und Bilder sowie mehr als 30 seltene Originale aus einer Freiburger Privatsammlung und aus dem Museumsbestand. Die Kabinettausstellung ist bis Januar 2024 zu sehen.

Riesenschere als Symbol für Zensur

Viele Elemente des Struwwelpeters seien zur Zeit seines Erscheinens politisch verstanden worden, erklärt Zekorn-von Bebenburg. Nach der Restauration der Feudalherrschaften auf dem Wiener Kongress 1815 trugen rebellische Studenten und Freigeister lange, offene Haare und Bärte. „Eine wilde Frisur zeigte die Opposition zu Gesellschaft und Politik“, sagt die Struwwelpeter-Expertin. Hoffmann habe mit seiner Figur „unbewusst ein Symbol für die Revolution geschaffen“. Genauso sah es zu dessen Zeit der Professor der Frankfurter Kunsthochschule Städel, Friedrich Maximilian Heßemer, der 1849/50 Struwwelpeter den „Vorläufer aller Roten“ nannte.

Auch einzelne Geschichten des Buches seien politisch interpretiert worden, erläutert Zekorn-von Bebenburg. Die Riesenschere, etwa, mit der der Schneider dem Daumenlutscher Konrad den Daumen abschneidet, sei das Symbol für die Zensur gewesen. Entsprechend sei Hoffmanns Schneider in der Tracht eines Zensors gekleidet. Die Ähnlichkeit der Kleidung und der Bommelmütze des großen Nikolas, der drei Buben in ein Tintenfass taucht, mit Karikaturen über den russischen Zaren habe zu dem Verbot des Struwwelpeters in Russland geführt.

In Frankfurt gibt es ein Restaurant gleichen Namens
In Frankfurt gibt es ein Restaurant gleichen NamensImago / Schöning

Der Autor Heinrich Hoffmann war nicht nur Beobachter seiner Zeit. Von den Aufständen im März 1848 begeistert, ließ er sich zum Abgeordneten des Vorparlaments wählen, das die Wahl der Nationalversammlung in der Paulskirche vorbereitete. Noch vom Studium in Heidelberg befreundet mit dem Badener Revolutionär Friedrich Hecker (1811-1881), lud er diesen ein, bei sich zu wohnen. Das ab dem 18. Mai tagende Parlament besuchte Hoffmann aber nur als Zuschauer und war bald ernüchtert von dem parlamentarischen Streit.

Im Sommer 1848 veröffentlichte Hoffmann unter dem Pseudonym „Peter Struwwel“ das „Handbüchlein für Wühler“, das wie andere Schriften in der Schau zu sehen ist. Hier zielte sein Spott mit der Figur „Peter Struwwel, Demagog“ auf die linken Republikaner. Genauso opportunistisch und ohne Kompromissbereitschaft waren seiner Meinung nach auch die Erzkonservativen. Ihnen widmete er mit dem „Heulerspiegel“ eine zweite bitterböse Satire, die als Abgesang auf den Revolutionsversuch im Frühjahr 1849 erschien.

Vorbild für Karikaturen

Die Ausstellung führt vor Augen, wie der Struwwelpeter und andere Figuren des Bilderbuchs als Vorbild für zahlreiche politische Karikaturen der Revolutionszeit dienten. Die historischen Momentaufnahmen illustrieren den Verlauf der Revolution von Ende 1847 bis 1849. Der „Eulenspiegel“ zeichnet im Oktober 1848 den „Revolutions-Suppen-Kaspar“. Der deutsche Michel als Paulskirchen-Parlamentarier weigert sich beständig, die Revolutions-Suppe zu essen, und haucht sein Leben aus. 1849 klagt „Der politische Struwwelpeter“ von Henry Ritter aus Düsseldorf den deutschen Michel an, dessen sich widersprechenden Köpfe die deutsche Einheit verhindern.

Auch Heinrich Hoffmann trifft die ab 1849 wieder angezogene Zensur. In seinem Bilderbuch „König Nussknacker und der arme Reinhold“ von 1851 missfällt den Preußen die Umdichtung ihrer patriotischen Hymne „Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands, Heil, Kaiser, dir“: „Heil dir, du Knusperhans, Hölzern in Pracht und Glanz, Heil, Knacker, dir“.