Macht in der Evangelischen Kirche: Alles Alpha-Tiere?
Macht in der evangelischen Kirche? Die soll immer von der Gemeinde kommen. Tatsächlich aber spielen Gremien auf der Leitungsebene entscheidende Rollen. Protestantische Vielstimmigkeit oder Chaos?
Es ist fast auf den Tag genau ein Jahr her, da brach das Chaos über die evangelische Kirche herein. In Ulm traf sich damals vom 12. bis 15. November das Kirchenparlament der Evangelischen Kirche in Deutschland – die EKD-Synode – zur jährlichen Tagung. Plötzlich gingen Gerüchte um: Die Ratsvorsitzende, oberste Repräsentantin der EKD, Annette Kurschus, ginge nicht offen mit Vorwürfen gegen sie um. Als Gemeindepfarrerin in den 90er Jahren habe sie nicht angemessen reagiert, als sie über Anschuldigungen gegen einen Mitarbeiter informiert worden sei, der sexuell übergriffig geworden sein soll. Diese Vorwürfe wogen schwer. Gerade hatte sich die EKD die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt auf die Fahnen geschrieben.
Ist die EKD-Synode in der öffentlichen Wahrnehmung sonst eher ein Randthema, waren jetzt Zeitungen da, Rundfunk, Social Media, Fernsehsender: Was ist denn bei euch los? Und erlebten erstaunt, was für ein Kuddelmuddel ihre Anfragen auslösten. Niemand bei der EKD schien sich in der Lage zu fühlen, Genaueres zur Klärung beisteuern zu können. Als dann die Synodaltagung auch noch einen Tag eher als geplant abgebrochen wurde – Begründung: Bahnstreik am nächsten Morgen –, war das Chaos perfekt: Evangelische Kirche – ja, wo war sie? Und überhaupt: Wer genau ist denn eigentlich „evangelische Kirche“?
Evangelische Kirche verfügt über mehrere Gremien
Wer ist evangelische Kirche? Und wer hat da etwas zu sagen? Das ist schon von Strukturen und Verfassungen her kompliziert: EKD-Rat mit Ratsvorsitz, Synode mit Synoden-Präsidium, Kirchenamt der EKD, Kirchenkonferenz, die 20 Landeskirchen, konfessionelle Bünde – da muss man sich schon sehr genau mit beschäftigen, um zu verstehen, wer für welche Gesetze zuständig ist, Verordnungen, Bestimmungen, Finanzen und öffentliche Stellungnahmen. Evangelische Kirche versteht sich von der Basis her. Grundlage sind die Kirchengemeinden, die ihre Leitung wählen (Presbyter, Kirchenvorstand). Die entsenden Vertreterinnen und Vertreter in Kreissynoden, von dort in die Landessynoden, von dort in die EKD-Synode. Das funktioniert schon in den Gemeinden nur mit viel gutem Willen.
„Kirchenvorstände und Synodale sind ganz überwiegend Ehrenamtliche“, erklärt Andreas Lange, stellvertretender Vorsitzender (Vizepräses) der EKD-Synode. „Die haben in aller Regel gar nicht die Zeit, sich so tief in Akten einzuarbeiten.“ Schon auf Gemeindeebene gelte: Hauptamtliche und die Verwaltung haben immer einen Vorsprung. Und das sei auch bei der EKD so. „Wer wirklich eine Kirche von der Basis her will, muss die Synodalen stark machen“, sagt Lange. „In der EKD-Synode versuchen wir das. Aber wenn man sich nur einmal im Jahr trifft und nur für ein paar Tage – das ist eine Herausforderung.“ Und so rangeln die verschiedenen Gremien und Körperschaften in der EKD und ihren 20 Landeskirchen darum, wer sich durchsetzt. Nicht nur bei Gesetzen und Verordnungen. Auch bei öffentlichen Stellungnahmen. Klima? Terroranschlag? Seenotrettung? Wahlen? Theoretisch kann da jede Landeskirche ihre eigene Meinung veröffentlichen. Oft passiert das auch.
Zuständigkeiten als protestantische Vielstimmigkeit
In der Öffentlichkeit entsteht dann schnell der Eindruck der Beliebigkeit. Oder von Chaos. Man kann dieses Nebeneinander von Zuständigkeiten mit gutem Recht als protestantische Vielstimmigkeit bezeichnen. Und da ist etwas dran. Denn einer, der für alle spricht – das hat ja etwa die katholische Kirche mit Papst und Vatikan. Aber so, von oben herab, statt nach evangelischer Tradition von der Basis her, das will dann auch keiner.
Gerade der Umgang der Kirchen mit dem Mega-Thema Aufarbeitung und Verhinderung sexueller Gewalt zeigt, wie verheerend der Eindruck sein kann, dass jeder für sich selbst wurschtelt. Unterschiedliche Standards bei Vorgehen, Zusammenarbeit mit Kommissionen, Entschädigungszahlungen, das ist Betroffenen, aber auch der Öffentlichkeit kaum vermittelbar. Immer wieder taucht die Frage auf, warum kann die EKD nicht einfach sagen: So wird das jetzt gemacht? Der Hinweis, dass die Landeskirchen zuständig seien, trifft nicht unbedingt auf Verständnis.
Kirchenamt, Synode, Rat: Wer hat was sagen in der EKD?
Wer also hat das Sagen in der EKD? Das Kirchenamt in Hannover? Als Verwaltung sind seine Mitglieder immer im Wissensvorsprung, haben im Hintergrund viel zu sagen. Legendär die Rangeleien mit der damaligen Ratsvorsitzenden Margot Käßmann. Insider berichten, dass man im Kirchenamt manches Mal klagte, man müsse die Ratsvorsitzende „wieder einfangen“, wenn die mal wieder spontan, ohne Absprache und sehr pointiert ihre Meinung in die Mikrofone gesprochen hatte.
Der Rat der EKD? Der war mal sehr stark. Jetzt gibt zu denken, dass etwa das Ratsmitglied Jacob Joussen seinen Rücktritt erklärt hat; auch, weil er den Rat mittlerweile nicht mehr ausreichend informiert sieht.
Die Kirchenkonferenz, also die Leitungen der Landeskirchen? „Wenn die sich einig wären, wäre die Konferenz der eigentliche Machtfaktor“, sagt jemand, der jahrelang zum engsten Umfeld zählte. „Aber das sind alles Alpha-Tiere, da wird niemand die Zuständigkeit über sein eigenes Revier abgeben.“
Die Synode? Vizepräses Andreas Lange sagt, die Synodalen müssten mehr befähigt werden. Ob das möglich und gewollt ist, muss sich zeigen. Nach Ulm hatte die Synodale Angela Rinn die Synode als schwächsten Faktor im Machtgefüge der EKD beschrieben. Wer wirklich Demokratie in der Kirche wolle, müsse diese Schwäche überwinden.
Die Machtfrage ist auch eine Personenfrage
Macht ist aber nicht nur eine Frage von Strukturen, sondern auch von Personen. Wolfgang Huber hat das gezeigt, der von 2003 bis 2009 als Ratsvorsitzender unbestrittener Chef im Ring der EKD war. Auch als 2009 mit Katrin Göring-Eckardt eine Berufspolitikerin Synodenpräses wurde, war plötzlich ein ganz anderes Selbstbewusstsein gegenüber dem Rat zu spüren („evangelische Doppelspitze“). Mit Irmgard Schwaetzer folgte eine weitere starke Präses. Auch die jetzige Vorsitzende der Synode, Anna-Nicole Heinrich, gilt als ambitioniert. Bleibt abzuwarten, was das für die Synode bedeutet.
Viele Jahre hat sich das System der protestantischen Vielfalt im Machtgefüge der EKD bewährt. Aber die Zeiten ändern sich. Weniger Kirchenglieder und Freiwillige für Leitungsämter, sinkende Finanzen, die Aufarbeitung und Verhinderung sexueller Gewalt erzeugen enormen Handlungsdruck. Wohin das führt? Irgendwann nur noch eine große EKD statt 20 Landeskirchen? Mit klareren Zuständigkeiten und effizienter Leitung? Schwer vorherzusagen. Aber der Weg zu mehr Gemeinsamkeit scheint ohne Alternative. Wenn sich, siehe Ulm, nicht wieder das Chaos breitmachen soll.