Vor 75 Jahren wurde der Europarat gegründet

Aus den Trümmern des Weltkriegs sollte ein geeintes Europa erstehen: Ganz ohne Hintergedanken war diese Idee Winston Churchills von Anfang an nicht. Jetzt erlebt die europäische Integration eine neue Bewährungsprobe.

Der Kriegsschutt in Europa war noch nicht abgeräumt, als Vertreter von zehn Regierungen den Grundstein zum Europarat legten. Offen wie die Zukunft des Kontinents war das Ziel des Vertrags, den sie am 5. Mai 1949 im Londoner St James’s Palace unterzeichneten: Es ging um einen vage formulierten engeren Zusammenschluss, der gemeinsame Ideale und Grundsätze schützen und fördern sollte; um die Festigung von Frieden und Demokratie auf der Basis von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. 75 Jahre später ist der Kreis der Mitgliedstaaten gewachsen – und der Anspruch weiter einzulösen.

Ins Spiel gebracht hatte die Idee der frühere britische Premier Winston Churchill mit einer Rede 1946 in der kriegsverschonten Schweiz. In seinem Gastvortrag an der Universität Zürich, der nach dem Wunsch der Veranstalter eigentlich unpolitischen Inhalts sein sollte, regte der Staatsmann und gewiefte Diplomat “eine Art Vereinigte Staaten von Europa” an. Die unerhörte Pointe: Als Kern der “europäischen Familie” sah er eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland – den beiden Nationen, die sich noch eineinhalb Jahre zuvor als Erbfeinde gegenüberstanden.

Churchill war nicht naiv, und ungeachtet seiner religiös getönten Friedensrhetorik hatte der Plan einen geostrategischen Hintergrund: Die Sowjetunion dehnte ihre Machtsphäre aus; es war klar, dass die USA nicht die einzige Atommacht bleiben würden. Eine vom Systemkampf zwischen Ost und West bestimmte Weltordnung zeichnete sich ab. Ein Nachkriegseuropa, in dem unter den Siegern “babylonisches Stimmengewirr” und aufseiten der Besiegten “verbissenes Schweigen der Verzweiflung” herrschte, wäre dem Westen nicht dienlich. Der Kontinent musste Einigkeit und Stärke finden. Churchill drängte zu Eile. Als ersten Schritt schlug er die Bildung eines Europarates vor.

Parallel dazu liefen andere Initiativen. Für die gemeinsame Bewirtschaftung der kriegswichtigen Güter Kohle und Stahl, die ein neues Wettrüsten in Europa verhindern sollte, und Projekte wie einen weitergehenden Binnenmarkt sowie eine abgestimmte Außen- und Verteidigungspolitik entstanden Formen der Zusammenarbeit, die in die heutige Europäische Union (EU) mündeten. Diese betreibt die politische Integration, während der Europarat eher als eine moralische Instanz auftritt.

Im Anliegen der europäischen Einigung spielen sie Seite an Seite. Sinnfällig wird das am Sitz des Europarates in Straßburg in direkter Nachbarschaft zum EU-Parlament. Beide Komplexe verbindet ein verwinkelter Gang von Fluren und gläsernen Passagen, mit einem Dachcafe dazwischen. Es handelt sich um getrennte Organisationen; aber dass es innerhalb des EU-Gebildes einen “Europäischen Rat” (die Staats- und Regierungschefs) und einen “Rat der Europäischen Union” (auf Ministerebene der EU-Staaten) gibt, führt beständig zu Verwechslungen.

Dem Europarat gehören heute 46 Länder an, also weitaus mehr als die 27 EU-Staaten. Zu den Mitgliedern zählen die Türkei und Aserbaidschan. Anders als in Churchills Europa-Vision stellt das christliche Erbe nicht unbedingt einen gemeinsamen Nenner dar. Nach wie vor sind Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit die Hauptaufgaben des Europarates; wiewohl auch hier die Standards weit auseinanderliegen.

Bekanntestes Organ des Europarates ist der Gerichtshof für Menschenrechte, der wie der Europarat selbst seinen Sitz in Straßburg hat. Seine Urteile auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention sind bindend; allerdings kann er sie nicht mit Zwang durchsetzen. So bleiben die stärksten Mittel des Europarates die “Soft Power” geteilter Überzeugungen und die Öffentlichkeit – auch durch angegliederte Expertengruppen, die regelmäßig Berichte etwa zu Korruptionsbekämpfung, Menschenhandel oder Gewalt gegen Frauen publizieren.

75 Jahre nach der Gründung ist der Europarat ein etabliertes, aber delikates Gebilde; das liegt an den komplexen, teils widerstreitenden Interessen seiner zahlreichen Mitglieder. Er hält nur so weit zusammen, wie der gute Wille aller Beteiligten reicht. Die Herausforderung liegt darin, die Wahrung von Werten auszuhandeln, die eigentlich als unverhandelbar gelten. Der Ausschluss der Russischen Föderation im März 2022 war ein schmerzlicher Einschnitt. Damit brach auch eine Verbindungslinie, wie schwach auch immer, zu jenen Menschen dort, die sich ein anderes Russland wünschen.

Die politische Landschaft Europas ist im Wandel. Unter dem Eindruck des neuen Krieges unternimmt die EU Schritte hin zu einer gemeinsamen Rüstung und Verteidigung. Als Verbündete gelten Länder, die eine gemischte Bilanz bei Freiheitsrechten oder Korruption aufweisen, etwa die Ukraine oder Moldau. In Staaten quer über den Kontinent erstarken Bewegungen, die nationale Interessen in den Vordergrund stellen oder Einschränkungen bei Gewaltenteilung und Machtkontrolle propagieren. Dem Europarat wird es zukommen, weiter eine Stimme für Frieden, Demokratie und Menschenrechte zu sein.