Von Bioladen bis Drogenszene – Mikrokosmos Hauptbahnhof

Der Kontrast ist groß. Geschäftsleute mit Rollkoffern und Latte macchiato hasten durch den Hauptbahnhof Hannover, dazu Ausflügler, Schüler und Senioren, die gut gelaunt in einen Regionalexpress steigen. Vor der Tür: Obdachlose, Junkies, Bettler. Die Blicke leer, die Bewegungen wie in Zeitlupe, einige liegen apathisch auf dem Boden.

Flucht, Armut, Drogen: Bahnhöfe spiegelten die Gesellschaft, sagt Tim Lukas, Soziologe an der Bergischen Universität Wuppertal. Soziale Problemlagen würden wie unter einem Brennglas sichtbar, schon immer in der Geschichte seien Bahnhöfe Visitenkarten für die Städte gewesen – mit repräsentativen Vorderseiten, aber eben auch verwahrlosten, vernachlässigten Rückseiten.

In Hannover sei die Diskrepanz zwischen draußen und drinnen besonders augenfällig, sagt Lukas, der zur urbanen Sicherheit forscht. „Man könnte sagen, es ist Hannover gelungen, den Bahnhof sauber zu halten und die Szene nach draußen zu verlagern – aber das löst natürlich kein Problem.“ Wie in vielen Städten fehle auch in der niedersächsischen Hauptstadt ein Gesamtkonzept. Das aber werde dringend benötigt, da die Zahl der Hilfsbedürftigen steige und sich die soziale Lage verschärfe.

Im Bahnhof Hannover hat Marvin Kirchhoff Dienst. Der Leiter des Bahnhofsservice passiert schnellen Schrittes Abfahrtstafeln, Rolltreppen und Schließfächer. Es geht vorbei an Bioläden und Bistros mit veganen Snacks und Smoothies. Ein Spiegel der Gesellschaft ist der „Einkaufsbahnhof“ auch hier, ökologisches Bewusstsein allerorten.

Auf dem Gleis angekommen, wird der 29-Jährige mit der weinroten Weste von Menschen umringt. Mein Zug wurde verlegt, von welchem Gleis fährt er? Veränderte Wagenreihung: Wo soll ich stehen? Der 29-Jährige ist ein Fels in der Brandung, ruhig und freundlich gibt er Auskunft.

Eigenschaften, die er sich von Reisenden auch wünscht. „Manche Menschen sind gereizt, respektlos, werden sogar laut und beleidigend“, sagt er. Kirchhoffs Rezept: Deeskalationstrainings und die Fokussierung auf die „netten Menschen“. „Ich behalte die in Erinnerung, die sich tadellos benehmen, das sind ja die meisten.“

So wie Martina Meyke. Sie wartet auf ihren Zug nach Köln, und auch sie spricht Kirchhoff an. Zwar habe sie die DB-App, aber nicht alles lasse sich digital klären, sagt sie. Außerdem sei es schön, mit Menschen zu sprechen. „Im Kölner Bahnhof finden Sie die gar nicht mehr.“

Dass Menschen in einem Bahnhof wichtig sind, weiß auch Ingeborg Jäger. Die 88-Jährige sitzt in der Bahnhofsmission bei einem Glas Wasser und wartet auf ihren Zug nach Magdeburg. Der ursprüngliche Zug fiel aus, nun muss sie eine Stunde überbrücken. Die Gießenerin ist froh, „dem Gewusel“ entkommen zu sein. Als es Zeit ist, hakt sie sich bei der Leiterin der Bahnhofsmission, Karen Hammerich, unter. Zusammen geht es zum Gleis. Hammerich winkt zum Abschied.

„Hier geht keiner raus, ohne dass er weiß, wie es weiter geht“, sagt Hammerich. Drei Hauptamtliche, 24 Ehrenamtliche und ein Bundesfreiwilligendienstler sind für die Menschen da – für desorientierte Senioren, Kinder, die auf ihre Eltern warten, für Flüchtlinge, die Rat brauchen, für Menschen in Notlagen. Eben erst hat Hammerich einem Reisenden mit Krücken ausgeholfen, seine wurden geklaut.

Wer in die Bahnhofsmission möchte, muss klingeln. Straftaten und Aggressionen machen auch vor der Bahnhofsmission nicht halt. Der Hauptbahnhof Hannover wurde testweise zur Waffenverbotszone erklärt, laut Medienberichten verzeichnet er im bundesweiten Vergleich die zweitmeisten Gewaltdelikte – nach dem Hauptbahnhof Hamburg.

Bahnhöfe, ein Hort der Kriminalität? Eine Einschätzung, die die Deutsche Bahn nicht teilt. Gemessen an der Zahl der Reisenden und Besucher sei das Risiko gering, Opfer einer Straftat zu werden, sagt eine Sprecherin. Insgesamt sind laut Bahn auf den 5.400 Bahnhöfen bundesweit täglich rund 21 Millionen Menschen unterwegs. 5.500 Bundespolizisten und 4.300 Bahnkräfte sorgten für Sicherheit – dazu kämen rund 9.000 Überwachungskameras.

Den Hauptbahnhof Hannover nutzen täglich über 260.000 Menschen. Der 1887 eröffnete, 100.000 Quadratmeter große Bahnhof gehört als großes Eisenbahnverkehrskreuz zu den meist frequentiertesten Bahnhöfen in Deutschland.

Soziologe Lukas teilt die Einschätzung der Bahn zur Sicherheitslage. Auch er sagt: „Gemessen an der Zahl der Reisenden sind Bahnhöfe sichere Orte.“ Die Situation außerhalb der Bahnhöfe sei jedoch ein bundesweites Problem, das angegangen werden müsse. „Die immer neue Verdrängung der Szene hilft nicht weiter, es müssen sozialpolitische Antworten gefunden werden“, sagt er. Dazu gehöre auch, der Straßenszene Räume und Angebote zu eröffnen. „Je weniger Raum sie hat, desto mehr verschärft sich die Situation.“

Denn eines, da ist sich Lukas sicher, wird nicht gelingen: Bettler, Obdachlose, Suchtkranke aus dem Bahnhofsumfeld zu vertreiben. Dazu gäbe es zu viele Gründe, die aus Sicht der Betroffenen für Bahnhöfe sprechen. Sie seien gut erreichbar, sie ermöglichten Teilhabe am sozialen Leben, man könne den einen oder anderen Euro erbetteln. „Insofern gehört das alles ein Stück weit dazu.“