Vom barmherzigen Samariter

13. Sonntag nach Trinitatis, Predigt über Lukas 10, 25-37

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei in uns lebendig! Amen
Liebe Gemeinde!
Liebe deine(n) Nächsten! Das hält alles, das hält uns zusammen. Als Gemeinde Jesu Christi. In dieser Gesellschaft. So wie mir hier in dieser Gemeinde vom ersten Moment an entgegengekommen ist, dass wir mitten in dieser spannungsvollen Welt einen klaren unmissverständlichen Auftrag haben: Liebe deinen Nächsten! Das ist ein ergreifender Satz, der in allen Weltgegenden, in allen Sprachen, in allen Kulturen verstanden wird. Sofort. Da muss man nicht viel reden. Das muss man einfach tun, sagt Jesus. Liebe üben. Liebe, die selig macht und Arbeit, Liebe, die uns mit ihrer Wucht überfällt und um den Verstand bringen kann – und manchmal auch sollte! Aber auch dies: Liebe, die fehlt. Und schon sind wir mittendrin im Geschehen.
Denn unsere Predigtgeschichte mutet uns ja zuallererst totale Lieblosigkeit zu. Denn da ist einer unter die Räuber gefallen. Sie haben ihn geschlagen und getreten, ohne Hemmungen immer wieder. Und so ist er gefallen, so tief unten war er noch nie, so verwundet und hilfsbedürftig und beschämt in seinem Schmutz.
Viele Menschen, liebe Gemeinde, fallen auf diese Weise unter die Räuber. Oder unter die Mörder. In Deutschland kann man schnell vergessen, wie verbreitet solch ungehemmte Brutalität in zahlreichen Ländern ist: Ein Mensch zieht friedlich seine Straße, und dann kommen andere und schlagen ihn halbtot und nehmen ihm alles, was er hat. In Syrien ist das so und im Irak und in Afghanistan und in vielen anderen Ländern. In anderen Weltgegenden ist das noch subtiler: Ein Mensch folgt friedlich seinem Glauben, und dann kommen staatliche Schergen und werfen ihn ins Gefängnis, einfach so, ohne Anklage. Oder da hoffen jüngst Geflüchtete auf Befreiung und ersticken elendig in einem LKW. Nebenan, in Österreich.
Und auch das darf nicht vergessen werden: Dass es ja so viele gibt, die auch in dieser reichen Stadt in Armut und Not fallen! Wer unter die Räuber fällt, liebe Gemeinde, verliert manchmal alles: Leib und Leben oder Vertrauen, Würde, Lebensmut. Ja, auch den Glauben.
Zu fallen ist die Urangst des Menschen. Von Kind an. Bis ins hohe Alter. Wer fällt, ist ausgeliefert, beschämt, ist unten. Zwischen Ohnmacht, Schmerz und Wut – die Perspektive des Opfers ist schwer auszuhalten. Jesus jedoch mutet sie uns heute zu. Denn die Liebe, die er lebt, ist unerhört konzentriert eine Liebe gegen die Angst. Sie ist „ausgerichtet", ist nicht „irgendwie", sondern ganz. Der ganzen Wirklichkeit zugewandt – auch dem Opfer, auch dem, was daran schmerzt und hilflos macht.
Und so sind wir beim Priester und beim Leviten. Von Jerusalem nach Jericho, wohlgemerkt nach ihrem Tempel- und Gottesdienst ziehen sie die Straße entlang – wer, wenn nicht sie, würden dem Verletzten helfen?! Doch sie sahen ihn  und gingen vorbei.
Vor ein paar Tagen fragte mich ein Journalist zum Thema Flüchtlinge: "Mit welchen Belastungen für Hamburger rechnen Sie?" Ich habe nur zurückgefragt: "Belastungen für die Hamburger? Belastet sind doch in allererster Linie die Flüchtlinge. Dann all die Helfer, haupt- wie ehrenamtlich – aber Sie und ich? Wir machen uns Gedanken, sind besorgt, kümmern uns auch. Aber ist das Last? Ist es nicht vielmehr genau richtig und längst „dran", gemeinsam zu überlegen, wie wir zukünftig in dieser Stadt leben wollen? Wie wollen wir, Jesus im Ohr, im friedlichen Miteinander mit Menschen aus anderen Kulturen und Religionen der Liebe pflegen, die den Nächsten sucht? Und nicht ihn vermeidet?!
Unsere Predigtgeschichte fordert heraus zur Selbstwahrnehmung. Denn neben der wunderbaren Welle der Hilfsbereitschaft hier in Hamburg kennen wir ja auch die Leviten. Auch in uns. Die angesichts der Not, die buchstäblich auf der Straße liegt, flüstern: Nein, nicht jetzt, ich habe es eilig, viel zu tun, es gibt doch andere, die sich kümmern. Oder dies: ich habe schließlich auch nichts zu verschenken. Und ist es nicht viel vernünftiger, das Kümmern den Profis zu überlassen?
Nein, der Nächste, bitte! Du bist die Nächste. Bitte! Jesus beharrt darauf, dass die Wahrheit unseres Glaubens nicht im Rationalen liegt. Sie liegt in der Liebe, in einem  so heftigen Gefühl, dass es das Denken neu auszurichten vermag. Der Samariter hat dieses Gefühl. Oder besser: es überfällt ihn. Ausgerechnet er, der von der jüdischen Gesellschaft Ausgestoßene, sieht hin und „ es jammerte ihn", es rührt ihn bis in die Eingeweide. Und so kann er gar nicht anders als von seinem Esel zu steigen, sich zu dem Verletzten hinabzubeugen und seine Wunden zu verbinden.
Es sind diese zwei Bewegungen des Samariters, die Jesus uns zum Maßstab macht: Die eine Bewegung geht aus ihm heraus – raumgreifend und impulsiv, das ist die Liebe. Sie erfasst den Nächsten oder die, die einem zufällig begegnen, die Ferneren, die Unsympathischen und den Feind auch. Und die andere Bewegung, liebe Gemeinde, die unbedingt zur Liebe gehört, ist das Absteigen vom Esel. Das Herunterkommen. Und damit auf die eigene Bedeutsamkeit verzichten, die eigene Macht, den eigenen Erfolg. Gott selbst ist das Muster dafür. Gott als der heftig Liebende steigt hinab in die Niederungen menschlichen Lebens. In aller Konsequenz. In Jesus Christus.
Und so ist es keine Moral, die uns sagt, was gut ist. Kein Zeitgeist, der uns mal hierhin, mal dorthin treibt. Sondern unser Glaube. Eine Gottesvorstellung. Absteigen und Herabbeugen vor lauter Liebe. Das ist die Bewegung unseres Glaubens! Und mehr noch: Willst du wirklich jemanden aufrichten, der gefallen ist, musst du dich hinknien und dich unter den Verletzten begeben. Nur von ganz unten vermagst du ihn aufzuheben. Wer einmal einen Menschen gepflegt hat, weiß, dass es einem das Ganze abverlangt, konzentrierte Kraft und Liebe von ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Gemüt, die ganz viel hält und aushält.
Es geht im Gleichnis vom barmherzigen Samariter also um das Ganze, ums Ganze menschlichen Lebens. Um den Jammer, die Scham, das Nicht-hinsehen-Können. Aber auch um die Liebe, die in uns ist und heraus will. Jesus weiß das. So will er uns gerade nicht in die Pflicht nehmen, dass ich frage: Was muss ich tun? Sondern in die Freiheit: Was will Gott in mir an Kräften freisetzen, damit seine Liebe und Güte Wirklichkeit wird?
Ich bin gerne hierhergekommen, denn ich weiß, dass Sie hier vielfältig um die Antwort auf diese Frage ringen. Es gibt nur wenige Gemeinden in Hamburg, die sich so wie die Friedenskirche in Jenfeld um Menschen in sozialer Not kümmert. Ja, die sich nicht nur kümmert mit Kleiderkammer und Mittagstisch, sondern die sich sorgt und die auch ein geistliches Zuhause gibt. Ist es nicht ein Geschenk Gottes, dass er all die Männer, Frauen und Kinder aus anderen Ländern in unsere Gemeinden führt und sie dort heimisch werden lässt?! So geht es ja auch in unserer Predigtgeschichte nicht allein um pure Versorgung, auch nicht nur um humanitäre Hilfe, so wichtig sie ist. Es geht letztlich darum, der Seele ein Zuhause zu geben. Fragt doch der Schriftgelehrte: Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?
Es ist wichtig, diese Frage nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn ich höre dann und wann, dass den besonders Engagierten auch mal die Puste ausgeht. Großes Engagement kennt Ermüdung. Vielleicht kennen Sie es hier in Jenfeld auch. Viel Arbeit erfordert viele Gebete. Denn wir brauchen bei all unserem Tun immer wieder das Gespräch mit Gott – in der Musik, dem Wort, der Stille. Damit wir immer wieder die Kraft bekommen. Die Kraft seiner Liebe.
Denn sie ist Quelle und Ziel zugleich. Und verändert alle. Wir sollten entschieden damit rechnen. Es könnte passieren, dass wer sich wirklich auf Nächstenliebe einlässt, von ihr ergriffen wird. Und anders. Und glücklich.
Als Vikarin hatte ich einmal eine kluge Konfirmandengruppe. Damals schon war sie inklusiv, denn Florian war schwer lern-, ja fast geistig behindert. Die anderen kannten ihn seit Kindertagen, so wie das eben ist auf dem Dorf. Irgendwann war auch die Geschichte vom Barmherzigen Samariter dran. Was liegt näher als sie hochdidaktisch aufzubereiten und mit einem Rollenspiel verständlich zu machen? Gedacht, getan. Benno lässt sich gekonnt berauben und fällt stöhnend zu Boden. Sylvia als Priester geht ebenfalls perfekt rollenkonform vorüber, nicht ohne sich zu empören, dass jetzt die Besoffenen schon auf der Straße lägen … Bühne frei nun für Florian, den Leviten. Der zögert kurz, geht entgegen aller Regieanweisungen auf seinen Freund Benno zu, kniet sich auf den Boden und streichelt seinen Kopf. Selbst als Benno sagt: „Mensch Flo, du sollst das anders spielen, geh´ jetzt mal an mir vorüber!", verharrt Florian bei ihm und streichelt ihn, immer wieder, streichelt über seinen Kopf. Denn es jammerte ihn wirklich.
Mich hat diese Szene tief berührt. Und die Konfirmanden, glaube ich, auch. Nächstenliebe bekam ein konkretes Gesicht. Und hat die Gruppe verändert. Gebe Gott, dass wir dazu die Kraft geschenkt bekommen: All die Rollen, die wir tagtäglich spielen, zu durchbrechen. Dem Nächsten zuliebe. Jesus sagt es ganz kurz und prägnant: So geh hin und tu desgleichen.
Amen.