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Völkerstrafrecht als Handyspiel

Auf dem Handybildschirm schälen sich Trümmer aus einem Hintergrund in Blautönen, die wie Tinte verlaufen. „Der Zweite Weltkrieg ist vorbei und große Teile Europas sind zerstört“, heißt es in dem Text, der erscheint. Die kaputten Gebäude und Trümmerhaufen schieben sich links aus dem Bild und ein großer Prachtbau an einer viel befahrenen und gut bewachten Straße erscheint: der Nürnberger Justizpalast. Hier beginnt am 20. November 1945 der Hauptkriegsverbrecherprozess gegen 22 ranghohe Funktionäre des NS-Regimes.

Genau in dieses Setting führt das Spiel „Tribunal 45 – Working on Justice“: „Wir wollten eine Möglichkeit schaffen, sich mit diesem abstrakten und komplexen Thema zu beschäftigen, ohne viel Text zu lesen. Wo man mitmachen kann und sich angesprochen fühlt“, erzählt Ann-Kathrin Steger, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Memorium Nürnberger Prozesse. Durch ein Förderprojekt der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) in Berlin hatte das Memorium die Möglichkeit, eine eigene App entwickeln zu lassen.

Die Umsetzung zusammen mit dem Berliner Spezialisten für sogenannte Serious Games, „Playing History“, dauerte rund ein Jahr. „Das Spiel soll nicht nur unterhalten, sondern auch Vermittlungsarbeit leisten und pietätvoll und ernsthaft dieses Thema angehen“, sagt der Geschäftsführer und promovierte Medienwissenschaftler Martin Thiele-Schwez.

Herausgekommen ist ein Spiel, das in verschiedenen Phasen über Diskussionen mit anderen Personen, das Suchen versteckter Gegenstände und das Sortieren von Akten und Beweismaterial durch die Stationen des Prozesses führt. Spielerinnen und Spieler schlüpfen dabei in die Rolle der Juristin Aline Chalufour, 1945 die einzige Frau im französischen Anklageteam. „Das Thema, an dem sie vor allem gearbeitet hat, waren die Geiselerschießungen, also die Ermordung von Zivilisten“, erzählt Steger. Die erste Aufgabe im Spiel ist, kurz vor Prozessbeginn die richtigen Unterlagen einzupacken. Auch die Strategie der Anklage wird im Laufe des Spiels ausgearbeitet.

Bei der Entwicklung der App kamen auch ethische Fragen auf, sagt Steger. „Wir haben uns die Frage gestellt, ob man den NS-Verbrecher Hermann Göring, der auf der Anklagebank saß, treffen soll. Oder ob wir Originalaufnahmen von toten Menschen zeigen sollen.“ Diese seien zwar im Memorium in der Ausstellung zu sehen, im Spiel aber bewusst nicht. Ein Grund dafür war laut Thiele-Schwez, einen Missbrauch des Spiels zu verhindern und eine Distanz zu den Verbrechern aufrechtzuerhalten. Passend dazu lehnt sich die künstlerische Gestaltung der Szenen an Gerichtszeichnungen an, die tragende Farbe ist Blau.

Damit das Spiel nicht überfordert, mussten die Mitarbeiterinnen des Memoriums eine strenge Auswahl treffen. „Game Design bedeutet in dem Zusammenhang immer Reduktion, also Fokus auf die wichtigsten Vermittlungsziele“, erklärt Thiele-Schwez. Um die Geschichte für das Spiel passend erzählen zu können, nahm sich das Team auch einige kreative Freiheiten. „Das heißt nicht, dass wir uns Dinge ausdenken. Aber es ist eben immer auch ein Erzählen über Geschichte, dazu brauchen wir eine eigene Dramaturgie.“

Das Spiel „Tribunal 45“ wird Teil der kostenlosen App „Memorium Nuremberg Trials“, in der auch der mehrsprachige Audioguide des Museums zu finden sein wird. Es richtet sich laut Theresia Heinz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Memorium, vor allem an Besucherinnen und Besucher ab der Oberstufe, die das Spiel an ihren eigenen Geräten auch direkt im Museum spielen können. Dazu seien extra barrierearme, bequeme Sitzinseln installiert wurden. Je nachdem, wie tief man ins Spiel einsinken möchte, dauert es 30 bis über 60 Minuten.

Vorgestellt wird „Tribunal 45“ am 22. November im Rahmen der Tage der offenen Tür „80 Jahre Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess“ im Memorium Nürnberger Prozesse. Um 16 Uhr diskutieren Entwickler und Vertreterinnen und Vertreter von Museum und Stiftung darüber, was ein Spiel, das sich mit der NS-Zeit beschäftigt, können muss und zeigen darf. (3608/17.11.2025)