Viele Menschen sind mit ihrem Papierkram überfordert

Anträge, Formulare, Rechnungen: Für viele Menschen ist die Alltagsbürokratie eine schier unlösbare Aufgabe. Sie brauchen Unterstützung – und die bieten verschiedene Organisationen.

“Als Kind habe ich meinen Eltern alles ins Arabische übersetzt, was wichtig war”, erinnert sich Karin Al-Shraydeh. Heute ist die 48-jährige Geschäftsführerin der gemeinnützigen GmbH “Wendepunkt”. Die soziale Anlaufstelle befindet sich im Berliner Wedding, einem Viertel mit traditionell hoher Migrantenquote.

Rund 20 Mitarbeiter helfen hier und im nahegelegenen Kiez-Cafe auf dem Leopoldplatz bei allem, was verschriftlicht werden muss. “Mit Abstand am häufigsten geht es um Bürger- oder Kindergeldanträge und um Wohnberechtigungsscheine”, berichtet Al-Shraydeh. “Manch einer kommt aber auch mit seiner gesamten Post zu uns, weil er sich nicht traut, allein die Briefe zu öffnen.”

Unter anderem auf Türkisch, Arabisch, Vietnamesisch, Englisch, Farsi, Russisch und Ukrainisch wird geholfen. Die Mitarbeiter beim “Wendepunkt” haben fast alle selbst einen Migrationshintergrund und wissen um die alltäglichen Schwierigkeiten, die eine neue Umgebung mit sich bringt. Dabei liege es nicht unbedingt an mangelnden Deutschkenntnissen. “Viele der Menschen, die unsere Unterstützung in Anspruch nehmen, sind mit dem Behördensprech überfordert oder einfach sehr unsicher und haben Angst, etwas falsch zu machen”, berichtet die “Wendepunkt”-Chefin.

Für die Älteren ist die Digitalisierung oft ein Problem, weiß Elisabeth Traeder. Die 72-jährige engagiert sich in München beim Projekt Postpaten des städtischen Sozialreferats. Als ehemalige Verwaltungschefin eines großen Forschungsinstituts sei sie “mit allen Word- und Excel-Wassern” gewaschen – “aber das geht den wenigsten meiner Generation so”, ergänzt die Österreicherin, die seit 40 Jahren in Bayern beheimatet ist.

Der Kontakt zu den Postpaten komme meist über soziale Dienste zustande. “Die wenigsten melden sich selbst”, sagt Träder. “Sie erleben sich selbst als inkompetent und das Fragen nach Hilfe ist oft schambehaftet.” Gerade wenn die Menschen zuvor in hochqualifizierten Arbeiten tätig waren oder zuvor immer selbstständig ihre Post bearbeiten konnten.

Als Postpatin betreut Träder derzeit vier Personen. Regelmäßig besucht sie ihre Schützlinge, sortiert Post, beantwortet Schreiben und hat ein offenes Ohr. Denn viele Betroffene bekommen nicht mehr viel Besuch. “Ich bin aber nicht ihr Kumpel, das ist ganz wichtig”, betont sie. Es brauche gewisse Distanz, auch weil die Unterstützung keine Dauereinrichtung ist. “Ich helfe, Ordnung reinzubringen und möglichst selbstständig zu werden”, erklärt Träder.

Getragen wird das Postpaten-Projekt von der Caritas, der AWO München-Stadt, dem Bayerischen Roten Kreuz, der Diakonie, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und der Israelitischen Kultusgemeinde München. Die Stadt München organisiert die Schulungen der ehrenamtlichen Helfer. Denn es gibt einiges zu beachten – und längst nicht jeder Postpate ist anfänglich so vertraut mit Formularen und Anträgen wie Elisabeth Träder von Berufs wegen.

Dementsprechend ist die Nachfrage nach Hilfe beim Papierkram groß – das gilt auch in Berlin beim “Wendepunkt”. “Etwa 700 Personen kommen in einem Monat zu unserem Antragshilfe-Service”, berichtet Karin Al-Shraydeh. “Zu Jahresbeginn im Januar waren es sogar über 1.000 Menschen, die unser Angebot wahrgenommen haben.” Einige von ihnen nehmen eine weite Anfahrt in Kauf: “Zu uns kommen nicht nur Berliner. Viele fahren extra aus Brandenburg in den Wedding, neulich kam sogar jemand aus Bremen.”

Sie kommen wohl auch zum “Wendepunkt”, weil das Angebot besonders niedrigschwellig ist. Man kommt einfach vorbei und wartet, bis man drankommt. Es ist nicht nötig, vorher einen Termin zu vereinbaren. Finanziert wird der Berliner Service vom Bund und vom Land Berlin. So konnten auch viele ehemals selbst Langzeitarbeitslose eine sinnstiftende Tätigkeit finden – als Antragshelfer, Seniorenbetreuer oder Job-Coach.

Und die Idee dazu? “Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn die Eltern mit Behörden und Papieren überfordert sind”, sagt Al-Shraydeh. “Es sollte nicht die Aufgabe der Kinder sein, mit Ämtern, Ärzte oder Lehrern zu kommunizieren und Dinge zu sprechen, mit denen Kinder eigentlich nicht konfrontiert werden müssen.” Als ihr Vater an Lungenkrebs erkrankte, erinnert sich die damals 13-Jährige, haben sie und ihre große Schwester mit dem Arzt die Diagnose besprochen und den Eltern übersetzt.