Verstellter Blick

Der Afrikakenner Bartholomäus Grill über die Verbrechen der Vergangenheit und was daraus folgen muss. Und über die Zerrbilder von Afrika, die immer noch im Umlauf sind.

Seit nahezu drei Jahrzehnten berichtet der Journalist Bartholomäus Grill aus Afrika, zunächst für die „Zeit“, inzwischen für den „Spiegel“. Seine „Berichte aus dem Inneren eines Kontinents“ wurden unter dem Titel „Ach, Afrika“ zu einem Bestseller. Jetzt hat Grill, der in Kapstadt lebt, eine „Reise in die deutsche Kolonialgeschichte“ vorgelegt. In „Wir Herrenmenschen“ leuchtet er die düsteren Kapitel der vor 100 Jahren geendeten Ära aus und greift auch aktuelle Debatten auf (Siedler Verlag, 304 Seiten, 24 Euro). Mit Bartholomäus Grill sprach Joachim Heinz.

Sie schreiben, dass die deutsche Kolonialgeschichte hierzulande kaum präsent sei. Aber derzeit wird doch recht intensiv über die Verbrechen in Namibia diskutiert.
Unser Blick war lange verstellt durch die Wucht der NS-Verbrechen. Was davor passierte, lag außerhalb des Radars. In jüngster Zeit hat die Debatte in der Tat an Fahrt aufgenommen.

Woran liegt das?
Die Ereignisse liegen jetzt ziemlich genau 100 Jahre zurück. 1919 wurde der Friedensvertrag von Versailles unterzeichnet, der das Ende des Ersten Weltkriegs besiegelte. Damit verlor Deutschland seine Kolonien.

In Namibia, dem damaligen Deutsch-Südwestafrika, brachten die Kolonialherren zwischen 1904 und 1908 Zehntausende Herero und Nama um. Seit mehreren Jahren laufen Verhandlungen zwischen Berlin und Windhoek zur Aufarbeitung. Warum dauert das so lange?
Die Gespräche verlaufen sehr zäh. Die Bundesregierung lehnt bislang jegliche Reparationen ab. Die namibische Regierung wiederum agiert zögerlich, weil sie verhindern will, dass einzelne Gemeinschaften bei möglichen Wiedergutmachungszahlungen bevorzugt werden. Windhoek sagt: Es geht um unsere ganze Nation; wir können nicht eine Ethnie herausgreifen. Trotzdem steht die von den Nachfahren der Opfer erhobene Forderung nach Reparationen im Raum. Und sie wird nicht nur uns weiter beschäftigen.

Wie meinen Sie das?
Auch Briten und Franzosen schauen sehr genau auf den Verlauf der Gespräche, weil sie um die Verbrechen in ihren eigenen ehemaligen Kolonien wissen, etwa in Kenia oder in Algerien. Da könnten die deutschen Verhandlungen mit Namibia zum Präzedenzfall werden.

Was Reparationen anbelangt, verweist die Bundesregierung auf das Völkerrecht…
 … wonach die auf UN-Ebene getroffenen Vereinbarungen nicht rückwirkend gelten. Davon abgesehen wäre aber auch zu klären, wer solche Wiedergutmachungen erhält: die Nachfahren der Opfer, die betroffenen Gemeinden, soziale Institutionen oder die Regierung Namibias? Opferverbände führen als Vergleich immer wieder die Entschädigung für die Holocaust-Überlebenden an. Der große Unterschied ist: In Namibia gibt es keine Überlebenden mehr.

Immerhin scheint in der Einordnung der Geschehnisse als Völkermord inzwischen Einigkeit zu herrschen.
Ich kann mit dieser Interpretation leben, halte sie aber historisch für falsch. Der Begriff Völkermord wird mir zu inflationär angewandt.

Der damalige Truppenchef Lothar von Trotha gab einen „Vernichtungsbefehl“ aus, um die Herero in den Untergang zu treiben.
Zweifellos haben die deutschen Kolonialherren schwerste Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt.

Viele Opfer gab es auch im Maji-Maji-Krieg zwischen 1905 und 1908 in Deutsch-Ostafrika auf dem Gebiet des heutigen Tansania. Dieses Ereignis ist so gut wie gar nicht in der Öffentlichkeit präsent – warum?
Im Unterschied zu Deutsch-Südwestafrika ist kein Vernichtungsbefehl bekannt, auch wenn die Verantwortlichen sicher ähnliche Absichten verfolgten. Aber ich denke, die Debatte wird kommen –schon allein weil tansanische Historiker verstärkt auf Aufarbeitung drängen. Sie schätzen die Zahl der Toten im Maji-Maji-Krieg, die durch Kämpfe, aber auch Seuchen und Hunger umgekommen sind, auf bis zu 300 000.

Im Zuge der Kolonialherrschaft gelangten viele Kunstgegenstände und menschliche Überreste in deutsche Museen, Kliniken und Universitäten. Manche Experten fordern eine möglichst großzügige Rückgabe; andere warnen vor übereilten Schritten und machen sich für einen Ausbau der Provenienzforschung stark, um zunächst die Herkunft der Objekte zu klären. Welcher Seite neigen Sie zu?
Bei der Provenienzforschung liegt vieles im Argen. Aber prinzipiell gilt: Die meisten Objekte wurden gestohlen und sollten zurückgegeben werden.

Kritiker befürchten, dass sie in die falschen Hände gelangen oder nicht angemessen präsentiert werden können.
Das halte ich für eine billige Ausrede. Erstens gibt es inzwischen enge Kooperationen zwischen afrikanischen und europäischen Wissenschaftlern; das zeigt sich etwa bei den berühmten Benin-Bronzen, deren Rückgabe Nigeria reklamiert und wo die zuständigen Stellen deutlich machen, dass sie um den Wert dieser Kunstwerke wissen und sie entsprechend präsentieren wollen.

Zweitens?
 … mag es ja zutreffen, dass im Einzelfall der Erhalt von Objekten durch eine Rückgabe gefährdet ist. Aber es handelt sich nun mal um koloniales Raubgut. Was die rechtmäßigen Besitzer damit anstellen, ist allein ihre Sache.

Der Streit um Kolonialobjekte begleitet auch die Arbeiten zum Humboldt-Forum in Berlin.
Es fängt schon damit an, dass ausgerechnet in einem wieder errichteten Repräsentationsbau von Preußentum und Kaiserzeit, dem Berliner Schloss, deutsche Geschichte präsentiert werden soll. Ich sehe sehr wohl Ansätze, die Idee eines geteilten Kulturerbes mit dem Humboldt-Forum zu ver-knüpfen. Aber zugleich scheint eine verklärende Selbstdarstellung der Deutschen und ihrer Geschichte im Vordergrund zu stehen. Man will eine Nation ohne Schatten sein.

Im ganzen Land tragen immer noch Straßen den Namen von Kolonialverbrechern. Auch viele Denkmäler oder Gräber kommen ohne erläuternde Hinweise aus. Wie kann man damit umgehen?
Die Umbenennung der Straßennamen ist überfällig. Allerdings muss man aufpassen, dass man dabei nicht über das Ziel hinausschießt.

Das heißt?
Im Fall der Berliner Petersallee, benannt nach dem Menschenschinder Carl Peters, kursierte etwa der Vorschlag, die Straße nach Nzinga von Matamba umzubenennen, einer angolanischen Herrscherin im 17. Jahrhundert.

Klingt politisch korrekt.
Ist aber eher peinlich –  weil Nzinga nicht nur als Freiheitsheldin verehrt wird, sondern auch am Sklavenhandel mitverdiente.

Unser Afrikabild, so schreiben Sie, bestehe neben Halb- und Unwissen vielfach aus Klischees und Zerrbildern. Wie kann man dem entkommen?
Das ist eine Generationenaufgabe. Wie stereotyp die Wahrnehmung ist, zeigt die Migrationsdebatte. Da ist gern die Rede von bis zu 200 Millionen Afrikanern, die über Europa herfallen. Migranten und Flüchtlinge werden als anonyme Masse entmenschlicht und lösen Überfremdungsängste aus. Ein klassischer kolonialer Abwehrreflex.

Gibt es solche Reflexe auch bei denen, die helfen wollen – etwa bei Kirchen und ihren Entwicklungsorganisationen?
Auch sie laufen mitunter Gefahr, Afrikaner ausschließlich als Opfer zu sehen, denen wir aus moralischer Verpflichtung heraus helfen müssen. Andererseits kenne ich gerade aus dem kirchlichen Bereich viele Entwicklungsprojekte, die gut funktionieren, weil sie auf einem gemeinsamen Glaubens- und Wertesystem basieren.

Entwicklungsminister Müller spricht von Afrika als „Chancenkontinent“. Phrase oder Zeichen für einen neuen Blick auf Afrika?
Ich halte Müller für den aktivsten Afrikapolitiker in Deutschland. Er lehnt sich weit aus dem Fenster und prangert zum Beispiel Hunger als Mord an. Außerdem erkennt und benennt er die Widersprüche in der Handelspolitik der Europäer. So zerstören die subventionierten Agrarexporte aus der EU die Märkte in Afrika. Da wäre ein radikaler Kurswechsel dringend geboten.