Vernichtendes Urteil: Evangelische Kirche ist konfliktunfähig

Die Missbrauchsstudie der evangelischen Kirche offenbart das Leid vieler Betroffener. Einige kritisieren das Vorgehen der Studie. Das ist okay, aber das Wichtigste ist: Der Anfang ist gemacht.

Ein unabhängiges Forscherteam veröffentlicht die Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche
Ein unabhängiges Forscherteam veröffentlicht die Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kircheepd-bild/ Jens Schulze

Bestürzung, Verstörung, Entsetzen, Trauer, auch Wut – die Präsentation der Forum-Studie zu sexualisierten Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie am heutigen Donnerstag gleicht einem Erdrutsch. Wer bislang noch glaubte, die evangelische Kirche brauche sich nicht groß um das Thema Sorgen zu machen, Missbrauch sei doch bis auf ein paar beklagenswerte Einzelfälle eher eine Angelegenheit der katholischen Kirche, musste jetzt aus diesem Traum ganz böse aufwachen: Die Studie eines unabhängigen Forschungsteams legt auf erschreckende Weise nahe, dass die Missstände in der evangelischen Kirche kein bisschen mehr schöngeredet werden können. Die Berichte darüber, was Menschen im vermeintlich sicheren Ort „Kirche“ angetan wurde, oft Kindern und Jugendlichen, und wie regelmäßig diese betroffenen Personen dann auch noch in ihren Bemühungen um Aufklärung abgewimmelt oder abgeschreckt wurden, lassen einem das Herz schwer werden.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten, mit den Ergebnissen, der Studie umzugehen. Entweder man mäkelt herum und verdammt die Studie: Die sei nicht aussagekräftig, die Aktenlage sei zu dünn, die Kirche bewege sich nicht schnell genug und sei doch gar nicht an Aufklärung interessiert. Diese Haltung hatte sich in den zwei Tagen vor der Präsentationen in überregionalen Medien breitgemacht.

Endlich haben Kirche und Diakonie diesen Schritt getan

Oder man sagt: Endlich haben Kirche und Diakonie diesen Schritt getan; er war überfällig und reicht noch längst nicht aus – deshalb müssen jetzt weitere Schritte folgen. Aber grundsätzlich ist diese Studie ein guter und richtiger Anfang.

Zu welcher Haltung man sich entscheidet, möge jedem und jeder selbst überlassen werden. Wer aber daran interessiert ist, dass die unsäglichen Missstände endlich aufhören, dass das Leid von Betroffenen gesehen, ernstgenommen und anerkannt wird, dass Unrecht aufgearbeitet und gesühnt wird und dass zukünftiges Leid von betroffenen Personen möglichst ausgeschlossen wird, kann sich doch sinnvollerweise nur auf die zweite Haltung konzentrieren. Bei allen Unzulänglichkeiten, die der Studie anhaften mögen, bei allen Fehlern oder Versäumnissen, die noch immer in Kirche und Diakonie bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gemacht werden – es ist gut, dass jetzt mit dem Abschluss und der Präsentation der ersten Studie ein Weg begonnen hat, der nicht mehr aufgehalten oder umgekehrt werden kann.

Studie kann nur der Anfang sein

Die Studie gibt die Richtung vor: Die evangelische Kirche sei konfliktunfähig und zu harmoniebedürftig. Ihre Theologie konzentriere sich mehr auf die Vergebung von Sünden und die Seelsorge an Sündern als auf die Hilfe von Betroffenen. Evangelische Kirche sehe sich zu sehr als die „bessere Kirche“ und als gesellschaftlich progressive Kraft, als sicherer Ort, in dem so etwas wie sexualisierte Gewalt von Pfarrern oder anderen Mitarbeitern praktisch unvorstellbar sei. Strukturen müssen sich ändern. Kirche müsse von sich aus auf sexualisierte Gewalt achten, nicht erst und ausschließlich reagieren auf die Meldung von Betroffenen – zumal betroffenen Personen dann auch ganz regelmäßig noch Steine in den Weg gelegt worden seien.

Rund 870 Seiten hat die Studie. Die wollen gelesen, verstanden und dann in konkrete Handlungen umgesetzt werden. Endlich, endlich hat die Aufarbeitung begonnen. Und sie muss jetzt mit aller Kraft, auch mit aller Bereitschaft zur Kritik und Korrektur weitergeführt werden. Auch und gerade dahin, wo es wehtun wird. Nur so können Kirche und Diakonie den betroffenen Personen gerecht werden und weiteres Leid und Unrecht möglichst ausschließen.