US-Historiker mit einer neuen Sicht auf die jüdische Geschichte

US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump hat ausgerechnet bei einem Event gegen Antisemitismus angedeutet, die Juden seien schuld, wenn er die Wahl verliere. Was hat Antisemitismus von heute mit dem Mittelalter zu tun?

Kann man bereits von Antisemitismus sprechen, wenn es um das Verhältnis zwischen Christen und Juden im Mittelalter geht? Das ist normalerweise verpönt, da der Begriff Antisemitismus erst in den 1870er Jahren entstand und eine rassische Bedeutung trägt. Für das Mittelalter sei der Begriff Anti-Judaismus besser, weil die Feindschaft von Christen gegenüber Juden religiös konnotiert gewesen sei, so die gängige Meinung in der Wissenschaft. Da ist allerdings einiges in den vergangenen Jahren in Bewegung geraten.

Ivan G. Marcus ist Professor für Jüdische Geschichte an der renommierten US-amerikanischen Yale University. Er hat das Zusammenleben von Christen und Juden in seinem jüngst erschienen, bislang nur auf Englisch erhältlichen Buch “How the West became antisemitic. Jews and the formation of Europe, 800-1500” (Wie der Westen antisemitisch wurde. Juden und die Entstehung Europas, 800-1500) grundsätzlich neu interpretiert.

Zusammengefasst versteht der Autor sein Werk als Untersuchung, “wie die Juden, real und imaginiert, die christliche Mehrheitsgesellschaft im mittelalterlichen Europa so herausforderten, dass Europa zu einer Gesellschaft wurde, die religiös und kulturell auf eine neue Weise antisemitisch war.” Dieses neue europäische Selbstverständnis sei dann Teil der kulturellen Identität bis zur Zeit des Holocaust und noch danach geblieben, so der Wissenschaftler.

Prinzipiell stellt der Mittelalterhistoriker fest, die Geschichte Europas zu dieser Zeit sei bislang so geschrieben worden, als ob Juden eher auf dem Mond statt in den kleinen Städten Nordfrankreichs, Englands oder Deutschlands gelebt hätten. Seiner Meinung nach neigen Historiker, die sich nicht intensiv mit jüdischer Geschichte beschäftigen, dazu, Juden als in Ghettos isolierte, passive Opfer von Verfolgung zu sehen, falls sie diese überhaupt zur Kenntnis nähmen. Das Gegenteil sei der Fall gewesen: Juden seien im Mittelalter durchsetzungsfähige Handelnde gewesen.

Wie stellte sich das Verhältnis zwischen den beiden Religionen nach Ansicht des Historikers Marcus dar? So hätten Juden die Christen als fehlgeleitete Anhänger ihrer überlieferten Bräuche akzeptiert, das Christentum aber als Götzendienst betrachtet. Christen hingegen betrachteten die Juden selbst, nicht aber das Judentum, als verachtenswert. “Sie richteten ihren Hass auf einen realen oder imaginären Juden: theoretisch untergeordnet, aber manchmal durchsetzungsfähig, ein unerbittlicher ‘innerer Feind'”, erklärt der Historiker.

Was folgte daraus? Christen waren fest davon überzeugt, dass Juden dauerhaft und physisch jüdisch blieben. Daher hätten sie gar nicht zum Christentum bekehrt werden können. Das habe dazu geführt, dass Christen die Juden zunächst aus religiösen Gründen und schließlich aus rassischen Gründen hassten, so Marcus’ Schlussfolgerung.

Eine wichtige Erkenntnis des Historikers ist, dass selbst als die Juden nicht mehr unter den Christen lebten, eben weil sie vertrieben oder ausgewiesen worden waren, sie dennoch bei ihren ehemaligen christlichen Nachbarn präsent blieben. Marcus spricht hier von “imaginären Juden” und verweist auf mehrere englische Dramen, die bis heute als Klassiker auf den Bühnen präsent sind.

William Shakespeare (1564-1616) etwa hat mit Shylock in “Der Kaufmann von Venedig” die Figur des unbarmherzigen jüdischen Geldverleihers über Jahrhunderte geprägt. Aber Shakespeare konnte keine Juden kennen, weil diese bereits 1290 aus England vertrieben worden waren.

Marcus’ Fazit: Der moderne Antisemitismus, der sich auf die Vorstellung vom mächtigen und die Welt beherrschenden Juden stützt, ist eine Weiterentwicklung dieses mittelalterlichen Hasses. Zum Schluss seiner Abhandlung äußert Marcus seine Sorge über den gegenwärtigen Antisemitismus in den USA.

Der Wissenschaftler sieht Muster gegeben, wie sie bereits im Mittelalter vorhanden waren: Juden als der innere Feind, als nicht ausreichend unterwürfig gegenüber der weißen, christlichen Mehrheitsgesellschaft und als Rasse, da ein Jude immer ein Jude bleibe. Es gebe jeden Grund, besorgt zu sein, dass postmoderne Formen des Nationalismus und ähnlicher Theorien, die auf der Überlegenheit einer weißen christlichen Gemeinschaft bestehen, die mittelalterlichen Strukturen des Antisemitismus recyclen würden.