Unverantwortlicher Forscherdrang

Vor 200 Jahren erscheint Mary Shelleys bis heute aktueller Roman „Frankenstein“: Eine Gruselgeschichte sollte es werden – gleichzeitig hat Shelley gesellschaftspolitische und naturwissenschaftliche Aspekte darin verarbeitet

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Eigentlich will sich Mary Shelley nur die Zeit vertreiben. Tatsächlich aber gelingt ihr ein großer Roman über das menschliche Bestreben, Gott zu spielen. Nach der Verfilmung 1931 wird Frankensteins Monster zu einer Kultfigur des 20. Jahrhunderts.
Sie sind auf der Flucht vor einem Skandal. Die erst 19-jährige Mary Godwin verlässt zusammen mit ihrem 26-jährigen Lebensgefährten Percy Shelley, der noch mit einer anderen Frau verheiratet ist, England in Richtung Schweiz. In der Villa von Lord Byron am Genfer See verbringen sie einen furchtbar kalten und verregneten Sommer. Um sich die Zeit in der Villa am Genfer See zu vertreiben, beschließt die Gruppe einen Schreibwettbewerb. Gesucht wird die beste Schauergeschichte. Alle Anwesenden sind literarisch gebildete Personen, das Interesse an gesellschaftspolitischen und naturwissenschaftlichen Themen ist groß.

Es begann alles mit einem Schreibwettbewerb

Mary Godwin kann auf viele Einflüsse aus ihrem Elternhaus zurückgreifen: Ihr Vater ist der bekannte Sozialphilosoph William Godwin, der das bestehende System politischer Hierarchien in England kritisiert und den Gedanken der französischen Revolution nahesteht, ihre verstorbene Mutter war die Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, die unter anderem für Frauen ein Recht auf Bildung einfordert.
Von den verschiedenen Schauer- und Vampirgeschichten, die sich die Teilnehmer untereinander erzählen, wird die Erzählung von Dr. Viktor Frankenstein die berühmteste werden. Mary Shelley lässt eigene Erfahrungen einfließen und wird manche Verweise auf die eigene Familie in einer späteren Ausgabe sorgsam entfernen. So ähneln die im Roman geschilderten Familienverhältnisse ihren eigenen: Früh verstirbt die Mutter, der Vater ist alleinerziehend, ein entferntes Mitglied der Verwandtschaft wird aufgenommen.
Das Kerngerüst der Geschichte ist schnell erzählt: Der Polarforscher Walton rettet aus dem ewigen Eis einen Menschen, der sich als Dr. Viktor Frankenstein zu erkennen gibt und seinem Retter – und uns Lesern – rückblickend seine dramatische Vergangenheit als Wissenschaftler und Forscher offenbart. Ihm, Frankenstein, war es nach zweijähriger Forschungstätigkeit, die ihn mehrfach an den Rand der Erschöpfung brachte, gelungen, das Geheimnis des Lebens zu entschlüsseln und einen aus Leichenteilen zusammengesetzten Körper zum Leben zu erwecken.
Die Folgen erweisen sich als so schrecklich, dass sich Frankenstein dafür entscheidet, das Geheimnis seiner Entdeckung nie preiszugeben. Zu schrecklich sei das, was sich ereignet habe, denn in der Nacht des Schöpfungsaktes wird Dr. Frankenstein beim Anblick der sich bewegenden Kreatur mit derartigem „Abscheu und atemloses Grauen“ erfüllt, dass er bestürzt aus seinem Labor flieht. Damit beginnt das eigentliche Drama. Nicht, dass Frankenstein neues Leben erschafft, sondern dass er sich durch kopflose Flucht seiner Verantwortung gegenüber seinem Geschöpf entzieht, ist die moralische Verfehlung, auf die Mary Shelley den Schwerpunkt ihrer Erzählung legt. Das Geschöpf wird Dr. Frankenstein später in einer ergreifenden Auseinandersetzung in den Schweizer Bergen dafür zur Rede stellen.
Dass sich der Name „Frankenstein“ als Symbol für menschliche Hybris und unverantwortlichen Forscherdrang in das kulturelle Gedächtnis eingebrannt hat, ist weniger auf den Roman als auf die klassische Verfilmung von James Whale aus dem Jahr 1931 zurückzuführen, in der Boris Karloff als „Monster“ die Rolle seines Lebens spielt. Die Kinobesucher konnten verfolgen, wie Dr. Frankenstein in seinem Labor allerlei Geräte aufgebaut hatte, um die elektrische Energie, die in einer Gewitternacht durch Blitz und Donner auf die Erde niederging, einzufangen und in den toten Körper zu leiten. Diese „Strahlungen“ waren von Frankenstein zuvor als Geheimnis des Lebens entdeckt worden.
Im Roman bleibt es ein Geheimnis, im Film scheint es enthüllt und vom Herzschrittmacher bis Defibrillator trauen wir auch heute der Elektrizität viel zu. „Es lebt!“, so der berühmte Ausruf Frankensteins. Berauscht von seiner Entdeckung streckt er sich dem Himmel entgegen und ruft: „Im Namen Gottes … Nun weiß ich, wie Gott sich gefühlt haben muss!“ – Doch diese Sätze sind zu viel für die damalige Filmzensur, sie müssen geschnitten oder von tosendem Gewitterdonner überdeckt werden. Dieses in der Filmfassung dargestellte Vergehen gegen den Schöpfergott spielt in der Urfassung des Romans kaum eine Rolle. Selbst auf dem Sterbebett sieht Frankenstein im Roman keinen Grund, um göttliche Vergebung für seinen Forscherdrang zu bitten. Er kann darin nichts „Tadelnswertes“ entdecken.
Vielmehr liegt im Roman der Sündenfall in der fehlenden Verantwortungsübernahme für das von ihm geschaffene Wesen. Die von ihm ins Leben gerufene Kreatur muss sich fortan alleine durch die Welt schlagen, sucht verzweifelt Kontakt zu den Menschen, wird jedoch immer wieder aufgrund ihrer Hässlichkeit verjagt. Das Wesen kann sich zwar durch intensive Beobachtung der Menschen aus einem Versteck heraus Kenntnisse aneignen, die für das soziale Miteinander wichtig und hilfreich sind. Aber sobald es versucht, mit Menschen in Kontakt zu treten, wird es aus Angst vor dem hässlichen Fremden verstoßen.

Das Geschöpf rechtfertigt seine Gewalt

So lässt sich diese Erzählung von Mary Shelley auch als Beispiel einer gescheiterten Inklusion lesen, wobei es nicht an Bildung oder Spracherwerb mangelt. Es ist ein leidvoller Bericht über erfahrene Intoleranz und Rassismus, die letztlich in Gewalt und hasserfüllte Rache umschlägt. Dabei wird das Geschöpf seine eigenen Gewalttaten mit der Gemeinheit und Bösartigkeit, die es durch die Menschen erlitten hat, rechtfertigen.
Bezeichnend ist, dass das Geschöpf keinen Namen trägt. Es wird auch nie direkt der Gattung Mensch zugerechnet, wodurch die aktuelle Frage der biomedizinischen Ethik zutage tritt, wem wir einen sogenannten „Personen-Status“ zuerkennen mit den damit verbundenen Rechten und Pflichten. Denn verdienen Schutz und Anerkennung nicht alle Lebewesen, die Empfindungen haben und Schmerzen verspüren?
„Die Verzweiflung, die Verbitterung und die Einsamkeit in den Worten des Monsters wirken menschlicher als alles, was sein Schöpfer Frankenstein von sich gibt“, so Arnold Pechmann, der den Roman von 1818 neu übersetzt und eine Biographie über Mary Shelley vorgelegt hat. In der Literatur und im Film sind es häufig die nicht-menschlichen Kreaturen, die aufgrund ihrer Ausgrenzung und Einsamkeit die menschlichsten Regungen zeigen und unser Mitgefühl erregen.

Ein zeitloses Motiv und unzählige Interpretationen

Durch die Kunst des Maskenbildners und durch seine beeindruckende Darstellung ist es Boris Karloff in der klassischen Frankenstein-Verfilmung von 1931 gelungen, ein Monster zur bekanntesten Kultfigur des Kinos im 20. Jahrhundert zu machen. Doch während in dieser Verfilmung das Monster nicht sprechen kann, sondern nur ungelenk durch die Welt stapft, ist das Geschöpf in Shelleys Roman weitaus filigraner, flink, geistig hoch entwickelt und wortgewandt. Es entdeckt in sich Gefühle und Emotionen. Dabei geht der Roman zugleich der Frage nach, wodurch das Böse – in Form von Gewalt und Hass – in die Welt kommt.
Das Frankenstein-Motiv ist zeitlos und kann auf unzählige Arten interpretiert werden. Die Erzählung ist eine Mischung aus Faszination und Schrecken, aus Traum und Alptraum, Schuld und Verantwortung. Und so bleibt „Frankenstein“ auch nach 200 Jahren und 500 verschiedenen Bucheditionen eine großartige moralische Erzählung.

Der Medizinethiker Kurt W. Schmidt ist nebenamtlicher Studienleiter an der Evangelischen Akademie Frankfurt.