Über das Leben mit einem schwerstbehinderten Kind

Hierzulande leben rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen, viele kaum wahrgenommen zu Hause. Einer von ihnen ist der 25-jährige Daniel. Über den Alltag seiner Eltern und den Wunsch, einmal durchzuschlafen.

Daniel röchelt, hustet, und immer wieder fließt Schleim aus seinem Mund. Nicht nur gelegentlich, sondern eigentlich den ganzen Tag und nicht selten auch die Nacht hindurch. Gerade sitzt der 25-Jährige in seinem Rolli mit seinen Eltern am Frühstückstisch. Sondenkost verträgt er weniger; in guten Phasen kann er pürierte Kost zu sich nehmen. Heute aber verschluckt sich, keucht, ringt nach Luft. Margret Gasper wischt liebevoll Schleim und Breireste vom Gesicht ihres schwerstbehinderten Sohnes.

Die Uhr an der Küchenwand in einem Vorort von Bonn zeigt 6.45 Uhr. Da sind die Gaspers schon seit über einer Stunde auf den Beinen. Sie haben bereits länger mit Daniel inhaliert, damit sich der Schleim lösen kann, der sich nachts in der Lunge des jungen Mannes gesammelt hat. Um 7.30 Uhr wird er an den Wochentagen von einem Bus abgeholt und für einen halben Tag in seine Behindertenwerkstatt gefahren. Bis dahin Morgenroutine.

Mutter Margret nippt an ihrem Kaffee, beißt rasch in ihr Brötchen und mischt nebenbei Medikamente in die Spritze der Magensonde. Während sie in ein Heft eine kleine Übergabenotiz für die Werkstatt schreibt, macht Günter Gasper seinen Sohn nebenan im Esszimmer zurecht. Noch einmal helfen die Eltern Daniel beim Abhusten. Dann bekommt er seine Unterschenkel-Orthesen angezogen und wird gut eingepackt – dicker Pulli, mehrere Decken, Rollstuhljacke. Denn seine Körpertemperatur liegt kaum über 35 Grad. Bewegen kann er sich ohnehin nicht, auch seine Sehkraft ist stark eingeschränkt.

Was er in der Werkstatt macht? Er bekommt Handmassagen, wird in die Angebote eingebunden, entspannt im Snoozleraum. “Aber er schläft auch viel – ein typischer Beamter”, sagt seine Mutter augenzwinkernd. Galgenhumor kann helfen, das eigene Schicksal zu meistern.

“Wenn er sagen könnte, wie es ihm geht, wäre vieles einfacher”, erklärt die 61-Jährige. Aber Daniel spricht nicht. Mit 25 Jahren misst er gerade einmal 1,30 Meter und wiegt 36 Kilogramm. “Gezielt kann er gar nichts.” Günter Gasper ergänzt: “Er kann lachen und schreien”; “man muss seine Mimik lesen können”, sagt Margret Gasper.

Eigentlich wäre Daniel gesund zur Welt gekommen, hätte seine schwangere Mutter nicht durch die Unachtsamkeit einer anderen Verkehrsteilnehmerin einen schweren Autounfall gehabt. Nicht nur ihr linker Oberschenkel war zertrümmert; auch die Plazenta löste sich ab, das Gehirn des Ungeborenen war zu lange ohne Sauerstoff. Mit einem Notkaiserschnitt wurde der Junge zur Welt gebracht.

Bald zeichneten sich bei ihm schwere geistige und körperliche Behinderungen ab. Hinzu kommen eine chronische Bronchitis und Epilepsie. Vor allem die instabilen Bronchien bereiten der Mutter Sorgen, “sonst könnte man mehr mit ihm machen”. Rund 40 Mal habe ihr Sohn bereits eine Lungenentzündung gehabt, “als er klein war, waren wir deshalb mindestens zwei Mal im Jahr im Krankenhaus”.

Einmal im Monat treffen sich die Gaspers mit anderen Eltern von Kindern mit Behinderung. Sie tauschen sich aus, geben sich gegenseitig Tipps für Anträge oder die Suche nach unterstützender Betreuung. Schon eine stundenweise Entlastung schaffe etwas Luft zum Durchatmen. “Das große Problem ist, überhaupt jemanden zu finden, der mal stundenweise auf Daniel aufpasst”, sagt Margret Gasper. Sie ist deshalb dankbar, dass sie vom Ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst Bonn betreut werden. “Er hat uns einen Ehrenamtlichen vermittelt, der sich für zweieinhalb Stunden pro Woche um Daniel kümmert.”

Sie selbst nutzt die wenigen freien Stunden, um in die Stadt zu fahren, etwas zu nähen oder zu basteln. Oder das Paar fährt gemeinsam zum Einkaufen, telefonisch immer erreichbar. Ihr Tag endet gegen 22 Uhr, doch auch die Nachtstunden sind selten ruhig. Daniel schläft im Elternschlafzimmer. “Schlimm ist, wenn er nachts schlecht schläft – hustet, jammert”, erzählt Margret Gasper. Es habe eine Phase gegeben, als ihr Sohn wochenlang nachts im Liegen geschrien habe. “Keiner wusste, was er hatte”, erinnert sich die Mutter. Und sagt offen: “Manchmal, wenn ich durch bin, ziehe ich auch mal Ohropax an”.

Wie hält man auf Dauer so eine Belastung durch? “Es muss gehen”, sagt ihr Mann. “Man funktioniert”, ergänzt die 61-Jährige, “obwohl man keine Kraft mehr hat, macht man einfach weiter”. Warum stellt sie ihr eigenes Leben so hinten an? Die einfache wie entwaffnende Antwort: “Ich liebe ihn”.

Schließlich gibt es auch gute Momente, die die Drei zusammen haben. “Er hat schon viel Spaß”, sagt Margret Gasper und zeigt innige Fotos mit ihm, auf denen Daniel lacht, mit wachen Augen in die Kamera schaut: “Da sieht es nicht so aus, als würde er sich nicht wohlfühlen…”

Kleine Auszeiten sind für die Eheleute umso wichtiger. “Wenn wir eingeladen sind, teilen wir uns auf”, sagt Günter Gasper. “Sie geht zu ihren Bekannten, ich zu meinen. Oder wir teilen uns den Abend auf, damit jeder bei der Feier vorbeischauen kann”, erklärt der 62-Jährige. Margret Gasper singt einmal in der Woche im Chor – “singen tut gut, mal unter den Leuten sein” – und nimmt einmal im Jahr an einem Chorwochenende teil. Ihr Mann fährt auch schon mal ein Wochenende mit seinen Freunden weg.

Einmal war Daniel mit seinen Eltern für drei Wochen in Kur, die auch ihnen zu etwas Abstand vom Alltag verhalfen. Eine Kur nur für sich alleine? “Ich habe noch nie darüber nachgedacht”, sagt Margret Gasper. Daniel für ein paar Tage in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung zu lassen, damit die Eltern einmal Zeit für sich haben? Daniels Mutter wäre trotzdem permanent in Sorge um seine Gesundheit, “das kippt so schnell”. Eine Eins-zu-eins-Betreuung sei dort gar nicht zu leisten.

Zwei Mal im Jahr fährt die Familie ein paar Tage ins Kinderhospiz ins sauerländische Olpe, einmal im Jahr ins Kinderhospiz bei Bremen – Clowns, ein Therapiehund und die liebevolle Betreuung tun der ganzen Familie gut. Andere Urlaubsträume? Einmal ans Meer oder nach Österreich in die Berge wären schön – “einfach mal woanders hin”, sagt Margret Gasper. In den 25 gemeinsamen Jahren mit Daniel waren sie vor vielen Jahren einmal in Sankt Peter-Ording und später einmal für zwei Wochen in Masuren. Früher hat die Familie auch mal den niederrheinischen Wallfahrtsort Kevelaer besucht. “Das schaffen wir gar nicht mehr”, merkt Daniels Vater trocken an.

“Wenn man darüber nachdenkt, wie man da durchkommt – vielleicht hat Gott doch geholfen”, sagt Daniels Mutter. Der Glaube helfe ihr. “Ich habe diesen Glauben aber auch nicht immer”, räumt sie ein. Und natürlich habe sie schon einmal überlegt, was anders wäre, wenn Daniel gesund wäre. “Das wäre natürlich schön. Aber ich kenne ihn ja nur so. Wollte ich ihn wirklich anders haben?”

Haben die Gaspers Wünsche für die Zukunft? Dass Daniel stabil ist, sagt Margret Gasper. Weniger Behördenkram mit Krankenkasse und Amtsgericht wünscht sich ihr Mann. Seit Daniel volljährig ist, sind die Eltern seine gesetzlichen Betreuer. Im jährlichen Rechenschaftsbericht müssen sie jeden für ihn ausgegebenen Euro dokumentieren.

Die Zukunft sehen die Eltern daher mit Sorge. Wer wird sich später einmal um Daniel kümmern? “Wir werden ja nicht jünger”, sagt Günter Gasper, der bereits einen Schlaganfall hatte. “Man merkt schon, dass man kaputter ist als früher”, bestätigt seine Frau. Eine Heimunterbringung ist für sie dennoch keine Alternative, “dort würde er untergehen”.

Was ist Liebe für sie? Beide denken lange nach. “Geborgenheit, füreinander da sein”, sagt Günter Gasper. “Dem anderen geben, was er braucht – ‘aufopfern’ wäre zu viel gesagt”, findet seine Frau.

So eingeschränkt Daniel auch ist – “er ist, glaube ich, nicht unglücklich”, sagt Margret Gasper. “Ich weiß nicht, ob er als gesunder Mensch glücklicher wäre.” Schließlich wisse man im Leben nie, wie sich alles entwickelt. “Daniel lacht viel, wenn es ihm einigermaßen gut geht, lebt im Hier und Jetzt, ohne sich weiter Sorgen zu machen. Manchmal beneide ich ihn dafür ein bisschen.”