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Tykwers Berlinale-Eröffnungsfilm bleibt hinter Erwartungen zurück

Mit Tom Tykwers “Das Licht” ist die 75. Berlinale eröffnet worden. Das 162-minütige Werk strotzt vor Ideen. Doch die Ambitionen stehen sich gegenseitig im Weg – ein holpriger Start in die Ära der neuen Intendantin.

Wenige Lieder quillen so von Ideen über wie “Bohemian Rhapsody”, der 1975 veröffentlichte Song der Rockgruppe Queen. Große Oper, zurückgenommene Rezitative, ruhige Balladenmomente, Hardrock und dann noch eine überaus breite Themenpalette: Der Song kann auch nach 50 Jahren noch Begeisterung bei jungen Hörern erzeugen. Auf den kleinen Dio in Tom Tykwers Film “Das Licht” trifft dies jedenfalls zu.

Immer wieder wird der Song angespielt, Dio (Elyas Eldridge) trällert ein paar Zeilen oder zeigt sogar eine ausgedehnte Choreographie dazu; die Faszination scheint endlos. Mit einer Ausnahme: Wo “Bohemian Rhapsody” an sich auf einer eher nihilistischen Note mit “Nothing really matters” abschließt, schreibt “Das Licht” dieses Ende zum umarmenden “Everything that matters” um. Denn der Film ist, wie der Song, von Grund auf als Kunstwerk gedacht, das tendenziell alles umfassen will.

So ist der Eröffnungsfilm der 75. Berlinale – Tykwers erste Kino-Regiearbeit seit 2016 – Gesellschaftsdrama und Sittenkomödie. Packt eine dysfunktionale Familienkonstellation ebenso an wie Flüchtlingsschicksale und Klima-Aktivismus, Gefühlskälte ebenso wie den Wunsch nach Erlösung. Mischt Musical-, Animations-, Science-Fiction- und Actionelemente hinein. Geht als Satire auf Werbebranche und Therapien durch. Nimmt deutsche Politik-Arroganz und selbstgefällige Entwicklungshilfe-Projekte aufs Korn. Bietet matte Flachsereien, vulgäre Ingmar-Bergman-Variationen und Kurzauftritte von Tykwers “Babylon Berlin”-Darstellern. Und das alles im kleinbürgerlichen Berliner Kosmos mit Abstechern in die Peripherie, nach Kenia, in den Syrienkrieg und in Fantasy-Gefilde, deren genaue Ortung unmöglich ist.

Dio ist in diesem Szenario tatsächlich ein wenig der “Poor Boy” aus “Bohemian Rhapsody”, mit dem er sich identifiziert. Der Sohn einer Deutschen und eines Kenianers ist regelmäßig bei seiner Mutter Milena in Berlin, deren Mann Tim und deren 17-jährigen Zwillingskindern Jon und Frieda. Wie er diese Phasen überleben kann, ist schwer begreifbar, denn in der Familie Engels lebt jeder in erster Linie für sich selbst.

Ministeriumsmitarbeiterin Milena (Nicolette Krebitz) ist ständig in Kenia, wo sich auch der Seitensprung mit Dios Vater Godfrey ereignet hat. Beruflich betreut sie Projekte, die wegen mangelnder Umsetzung vor Ort und schwindender Rückendeckung aus Deutschland aber auf der Kippe stehen. Tim (Lars Eidinger) fängt mit Werbekampagnen Konsumenten ein und markiert jugendlichen Elan, auch wenn er Mitarbeitende und Zielpublikum längst im Alter deutlich übertrifft. Außerdem fährt er immer Fahrrad, um wenigstens in einer Hinsicht Bewusstsein für die Probleme der Gegenwart zu demonstrieren.

Die Kinder sind schnell charakterisiert: Jon (Julius Gause) beherrscht wenig außer einem Virtual-Reality-Spiel, das aber meisterlich; Frieda (Elke Biesendorfer) tut sich die meiste Zeit selbst leid, gleitet durch Drogentrips und nimmt auch mal an einem Klimaprotest teil. Was die Jugend eben so macht. Eine ganz normale, oberflächliche Familie, die sich aus dem Weg geht und nicht einmal bei der Nutzung des Kühlschranks in die Quere kommt.

Um überhaupt Bewegung in diese erstarrte Gesellschaft im Zentrum von “Das Licht” zu bringen, braucht es eine fremde Figur. Diese lässt Tykwer mit der Exil-Syrerin Farrah (Tala Al-Deen) auf die Engels-Familie als deren neue Putzfrau los. Eine Zeitlang wird es sogar richtig ernst, wenn sich hinter dem freundlichen Auftreten der Frau ein schlimmes Flüchtlingsschicksal enthüllt.

Mehr allerdings interessieren den Film Farrahs etwas obskure heilende Kräfte, mit denen sie zunächst mit offenem Ohr und entschlossenem Ratschlag die diversen seelischen Probleme aller Familienmitglieder verbessert. Als das nicht mehr reicht, folgt die nächste Stufe: Einen nach dem anderen macht Farrah die Engels mit einer Therapie bekannt, bei der sich die Betroffenen vor eine fünffach blinkende Lampe setzen müssen. Womit ein äußerst komplizierter Plan aber erst seinen Anfang nimmt.

Umständlich erscheint dieses Vorhaben aber vor allem deshalb, weil Tykwer auf dem Weg bis zur Umsetzung noch reichlich Zeit mit den Befindlichkeiten der Engels verbringt und dabei in jede Seitenstraße hineinläuft, die sich unterwegs auftut. “Filme, die sich selbst herausfordern, die sich in jeder Szene der Routine widersetzen”, seien sein Leitbild gewesen, hat der Regisseur zu Protokoll gegeben. Dementsprechend leert er in vollen Zügen das Füllhorn seiner Einfälle aus. Keine Szene ohne ornamentale Schlenker, kein Filmtrick, der unangetastet bleibt – dabei immer felsenfest überzeugt von der eigenen Relevanz und Virtuosität.

Doch es gibt etliche Aspekte, die Tykwer entgangen sind und die seinen beabsichtigen Kino-Höhenflug unrühmlich zum Absturz bringen. Da ist die mangelnde Tiefe sämtlicher Figuren und der hehren Themen, gepaart mit einem Inszenierungsstil, der lediglich aufstapelt und dem nie eine produktive Vereinigung der Elemente gelingt. “Das Licht” wirkt, als hätte sich der Regisseur noch einmal auf das filmische Tanzparkett gewagt, um eine ähnliche Abfolge entfesselter Moves vorzuführen, wie sie ihm einst in “Lola rennt” gelang. Doch diesmal kommen eher seltsame Verrenkungen und eine Masse an Themen ohne Mehrwert heraus. Wenn “Das Licht” nach 162 Minuten endlich sein Ziel erreicht hat, drängt sich “Nothing really matters” im Grunde doch mehr als Fazit auf als Tykwers positive Umdeutung.

Für die erste Berlinale unter der Leitung von Tricia Tuttle ist Tom Tykwers Kino-Comeback gewiss nicht der erhoffte strahlende Auftakt, als der er gedacht war. Im Gegenteil: Die Intendantin muss nun sehr darauf hoffen, dass der Rest des Jubliäumsprogramms den eher halbgaren Einstieg vergessen machen kann.

Bei ihrem Auftritt in der Eröffnungsgala war es in jedem Fall eine kluge Entscheidung, sich weniger über die Relevanz der gegenwärtigen Berlinale auszulassen, als zur 75. Ausgabe die Tradition der Filmfestspiele und bleibende Glanzlichter zu beschwören. Die Rückschau auf frühere Gewinner des Goldenen Bären passte dazu ebenso wie der Ehrenpreis für die Schauspielerin Tilda Swinton, die der Berlinale bereits seit fast 40 Jahren die Treue hält. Doch ewig im Glanz der Vergangenheit sonnen kann sich die neue Leiterin nicht. In den kommenden Tagen wird es ernst für sie.