Trotz neuer Regierung: Haiti weiter im Bann der Bandengewalt
Seit rund 100 Tagen ist die neue Regierung in Haiti im Amt. Der im Juni von einem Übergangsrat eingesetzte Ministerpräsident Garry Conille war angetreten, um der Korruption und der Bandengewalt in dem Karibikstaat Einhalt zu gebieten.
Während die US-Regierung Fortschritte beobachtet, sind Vertreter der haitianischen Zivilgesellschaft ernüchtert. Haitianische Diaspora-Organisationen in den USA und Kanada betonen in einer gemeinsamen Stellungnahme, das „soziale Chaos“ gehe unvermindert weiter. Die Regierung ignoriere die „katastrophale Realität“ der Bevölkerung, die tagtäglich der Gewalt ausgesetzt sei, und verbreite bloß leere Versprechungen in sozialen Medien.
Am 11. Juni hatte Conille, ein Arzt und ehemaliger Unicef-Regionaldirektor für Lateinamerika und die Karibik, seine Regierung vorgestellt. Die Regierung war vom Übergangsrat eingesetzt worden, der seit Ende April nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Ariel Henry amtiert. Während der Amtszeit Henrys, an dem insbesondere die USA lange festhielten, wurde nicht nur Präsident Jovenel Moïse 2021 ermordet, auch kriminelle Banden wurden immer mächtiger. Sie kontrollieren insbesondere Teile der Hauptstadt Port-au-Prince und verhinderten eine Rückkehr Henrys von einer Auslandsreise.
Die Amtsübernahme Conilles fiel zeitlich mit dem Start einer internationalen Polizeimission unter der Führung Kenias zusammen. Ende Juni trafen die ersten Polizisten aus dem ostafrikanischen Land in Haiti ein. Bei der von einem UN-Mandat gedeckten Mission sollen sie der haitianischen Polizei dabei helfen, von Banden kontrollierte Quartiere in Port-au-Prince zurückzuerobern.
Bisher sind gerade einmal 400 Kenianer im Einsatz, obwohl ursprünglich 2.500 internationale Sicherheitskräfte geplant waren. Die USA stellen für die Mission 300 Millionen Dollar zur Verfügung. Davon wurden laut Medienberichten bereits 80 Millionen Dollar für Ausrüstung und den Bau von Kasernen ausgegeben.
Die US-Regierung erklärte nach einem Besuch des Außenministers Antony Blinken in der Hauptstadt, dank der internationalen Polizeipräsenz sei die Lage auf Haiti nun „viel stabiler“. Blinken erwähnte auf seiner Pressekonferenz vor Ort Anfang September die Rückeroberung des internationalen Flughafens und des Universitätskrankenhauses – der größten medizinischen Einrichtung der Hauptstadt – als Erfolge der Mission.
Doch Zweifel kommen auch aus den USA. Der ehemalige US-Sondergesandte für Haiti, Dan Foote, bezeichnete die Äußerungen Blinkens schlicht als „Lügen“. Der Flughafen sei schon vor der Ankunft der Kenianer von der haitianischen Polizei zurückerobert worden, sagte Foote im Interview mit dem Fernsehsender CNN.
Hinzu kommt: Trotz der Rückeroberung ist das größte Krankenhaus des Landes bisher nicht wieder in Betrieb genommen worden. Bei einem Besuch von Regierungschef Conille Ende Juli eröffneten Banden aus dem umliegenden Viertel das Feuer. Conille und sein Anhang mussten die Flucht ergreifen. Kurz darauf protestierten mehrere Tausend Haitianer gegen die andauernde Bandengewalt in Port-au-Prince.
Neben der anhaltend desaströsen Sicherheitslage erschüttert auch ein handfester Korruptionsskandal das Land. Drei der acht Mitglieder des präsidialen Übergangsrats wurden von Raoul Pierre-Louis, dem Verwaltungsratsvorsitzenden der Nationalen Kreditbank, der Korruption bezichtigt. Conille ging diesen Vorwürfen nicht nach, sondern entließ Pierre-Louis und den gesamten Verwaltungsrat der staatlichen Kreditbank.
Die Haiti-Expertin Katja Maurer kritisiert die internationale Politik gegenüber Haiti grundsätzlich. Die USA und die internationale Gemeinschaft engagierten sich nur für eine „militärische Einhegung“ der Krise, sagte die Buchautorin und frühere Mitarbeiterin der Hilfsorganisation medico international dem Evangelischen Pressedienst (epd). Um die Krise in Haiti zu lösen, reiche es nicht, sich auf den Kampf gegen die Kriminalität und die Organisation von Wahlen zu beschränken. Zum Beispiel müssten auch korrupte Politiker vor Gericht gestellt werden. Nur mit solchen „Zeichen der Rechtsstaatlichkeit“ könne die Bevölkerung wieder Vertrauen in staatliche Strukturen aufbauen.