Therapeut Tom Pinkall: Wie wir warten erleben, hängt von uns ab

Wenn wir warten müssen, ist das oft mit negativen Gefühlen verbunden. Für den Therapeuten und Theologen Tom Pinkall steht fest: Warten kann auch schön sein. Zum Beispiel in der Adventszeit.

Auch das Warten auf einen Zug wird von Mensch zu Mensch unterschiedlich empfunden
Auch das Warten auf einen Zug wird von Mensch zu Mensch unterschiedlich empfundenRawpixel

Herr Pinkall, Sie haben mich für dieses Interview etwas warten lassen, wir mussten unseren Termin kurzfristig verschieben. Es schien Ihnen etwas unangenehm zu sein. Ist das etwas, das mit Warten verbunden ist? Dass es irgendwie unangenehm ist?
Tom Pinkall: Nein, auf keinen Fall. Das kann man so grundsätzlich nicht sagen. Wenn man zum Beispiel Leute am Bahnhof oder am Flughafen beobachtet, dann sieht man, dass Warten auch mit Freude oder Vorfreude verbunden sein kann. Wie man Warten empfindet, hängt ja auch von den eigenen Bewertungen ab.

Was genau ist denn Warten?
Es ist zunächst mal ein Wort mit sechs Buchstaben, der Rest ist innere Einstellung und Kontext.

Das müssen Sie genauer erklären.
Warten oder besser: Das, was wir gelernt haben, Warten zu nennen, ist vom Kontext, von der Erwartung abhängig, die wir daran haben. Die Erwartung von etwas, das noch nicht da ist, färbt das Erleben des jetzigen Moments, obwohl es noch nicht da ist. Das ist das Spannende.

Das heißt, es hängt von mir ab, wie ich das Warten empfinde und ob ich es überhaupt als Warten empfinde?
Ja. Wenn ich auf jemanden warte, ist das vielleicht etwas Schönes. Wenn der andere dann schlecht gelaunt aus dem Zug aussteigt, dann bin ich enttäuscht. Das verändert vielleicht auch meine Bewertung des vorherigen Wartens. Allgemein würde ich sagen, dass Warten etwas wahnsinnig Persönliches und Subjektives ist. Es liegt an mir und meinen Empfindungen, wie ich das erlebe, was wir Warten nennen.

Das heißt also, wir haben es in der Hand?
Im Prinzip ja. Wie wir Warten erleben, ist eine Entscheidung. Unser Leben besteht einfach aus einer Aneinanderreihung von Erfahrungen. Während ich an der Ampel oder an einer Haltestelle stehe, erlebe ich ja auch etwas. Statt mich auf das Warten zu konzentrieren, könnte ich auch meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten. Die Menschen neben mir zum Beispiel, Musik im Radio, die Sonne oder den Wind auf der Haut. Obwohl die Situation dann von außen immer noch die gleiche ist, ist das Erleben anders. Das Leben macht keine einzige Pause. Es gibt keine Unterbrechung. Wir können letztlich auch das ganze Leben als Warten auf das Ende sehen. Die Frage ist, ob ich es damit verbringe, auf dieses Ende zu warten oder wie ich die Zeit, die mir bleibt, sonst gestalte.

Auch am Flughafen verbringt man mitunter viel Zeit mit warten
Auch am Flughafen verbringt man mitunter viel Zeit mit wartenUnsplash / Kelvin Balingit

Das klingt etwas zu einfach. Wenn es so leicht wäre, das zu steuern, warum machen wir es dann nicht?
Viele unserer Bewertungen hängen ja auch mit unseren Vorerfahrungen zusammen. Nehmen Sie zum Beispiel das Wartezimmer bei einem Arzt oder in einer Beratungsstelle. Solche Orte schaue ich mir oft genau an. Ich stelle mir vor, wie es den Leuten geht, die hier Zeit verbringen. Man ist schon da, aber noch nicht dran. Und wie ich diesen Zwischenraum erlebe, hängt stark davon ab, was ich vorher erfahren habe. Habe ich schlechte Erfahrungen mit Ärzten gemacht? Gab es schon mal Komplikationen? Erwarte ich vielleicht schlechte Nachrichten. Oder weiß ich schon, dass der Befund gut ist und es ist einfach ein Nachgespräch nach einer bedrohlichen Erkrankung? Das alles beeinflusst natürlich unser Empfinden.

Das heißt, das was wir erwarten, spielt eine Rolle dabei, wie wir das Warten erleben?
Genau. Welche Gefühle mich begleiten, das ist davon abhängig, welchen Ausgang, welches Ergebnis ich erwarte. Erlebe ich Freude, Angst, Sehnsucht? Ist es etwas Positives, bin ich vielleicht eher geduldig. Es ist immer auch eine Reaktion. Wenn Sie zum Beispiel Angst haben, zu spät zu kommen, den Wunsch haben, schon dort zu sein, dann empfinde ich das Warten als furchtbar, jede Rotphase an der Ampel wird zur Geduldsprobe.

Was kann man dagegen tun?
Sie können Ihr Gefühl bemerken. Wenn ich mir in der Situation die Frage stelle, warum ich gerade so gestresst oder wütend bin, dann weite ich den Blick. Vieles, was wir als ungeduldiges Warten, als anstrengende Situation erleben, ist nur eine Möglichkeit des Erlebens. Die Situation gibt das nicht vor. Es ist aber auch menschlich. Fangen Sie also nicht an, sich vorzuwerfen, dass Sie eine Situation des Wartens als quälend erleben. Das soll kein Aufruf zur Selbstoptimierung sein, sondern der Vorschlag, liebevoll mit sich selbst umzugehen und Verständnis für sich zu entwickeln.

Sie sprachen vorhin von Zwischenräumen, was gefällt Ihnen daran?
Ich finde interessant, dass sie die Möglichkeit bieten, innezuhalten und zu erfahren, was los ist. Wartezimmer, Haltestellen, Wartesemester – es ist ja etwas paradox, dass es so heißt. Es wird ja nicht nur gewartet, es passiert ja in jedem Moment etwas. Die Zeit steht nicht still. Wir kreieren jedoch eine Differenz zwischen dem Jetzt und dem, was wir erwarten – einen Zustand des Dazwischen.

Tom Pinkall
Tom Pinkallprivat

Warten kann man ja nicht nur auf Dinge oder Ereignisse, sondern auch auf Personen. Wenn zwei Personen daran beteiligt sind, dann hat man es nicht unbedingt selbst in der Hand, oder?
Ja, warten hat auch mit Macht und Ohnmacht zu tun. Wer darf wen warten lassen? Wenn die Chefin ihre Mitarbeiter warten lässt, dann kann das Absicht sein, um Druck oder Unsicherheit zu erzeugen. Manchmal ist es eine Machtdemonstration, manchmal eine Strategie für Verhandlungen. Das Prinzip der verzögerten Reaktion kann aber auch ein guter Beitrag sein. Man verschafft sich Zeit, erstmal zu überlegen, eine Pause zu machen, statt im Affekt zu handeln.

Gibt es auch kulturelle Unterschiede beim Warten?
Ganz bestimmt. Hier regen sich Menschen gern auf, wenn die Bahn 13 Minuten zu spät ist. In Nepal zum Beispiel heißt es oft nur, dass der Bus am Vormittag irgendwann fährt. Es hängt vom kulturellen Kontext, von den Gepflogenheiten ab. Und es geht auch um die Frage, wie wir mit Zeit umgehen. Muss ich immer effektiv sein, muss ich jeden Moment nutzen? Was ist da gesellschaftlich angesagt?

Was kommt, wenn das Warten zu Ende ist?
Dann kommt das Unerwartete. Das Neue. Weihnachten zum Beispiel. Und davor eine Wartezeit: Advent.

Tom Pinkall ist systemischer Therapeut und Supervisor, Trainer für Akzeptanz- und Commitment Therapie (ACT) und MBSR (Mindfulness-Based-Stress Reduction) und Diplom-Theologe.