Theologin: Orthodoxe Kirche verbot Trauergebete für Nawalny

Ohne Chor und würdige Worte: Die Ostkirchen-Expertin Regina Elsner wirft dem Moskauer Patriarchat vor, die Beisetzung des Oppositionellen Alexej Nawalny torpediert zu haben. Für manche Gläubige sei er ein Märtyrer.

Die Theologin Regina Elsner hat den Umgang der russisch-orthodoxen Kirche mit dem in einem Straflager gestorbenen Kremlkritiker Alexej Nawalny kritisiert. „Es gab offensichtlich ein Verbot für kirchliche Trauergebete, die eigentlich am dritten und neunten Tag nach dem Tod geboten sind. Kein einziges solches Gebet hat offiziell stattgefunden“, sagte die Professorin für Ostkirchenkunde und Ökumenik der Universität Münster am Freitag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Gläubige seien stattdessen überprüft worden, wenn sie in Kirchen Gebete für „den verstorbenen/ermordeten Alexej“ bestellt hätten.

Keine Pfarrei habe sich für die Beisetzung anbieten dürfen, so Elsner. Die Kirchenleitung habe entschieden, wo sie stattfindet. Die ausgewählte Gemeinde bedeute laut der Theologin „keine Gefahr für das System“. Denn die Geistlichen hätten der Beisetzung einen minimalen Raum gegeben, „so dass kein Eindruck einer besonderen Beerdigung aufkommt“. Die Kleriker hätten keine wertschätzenden Worte gesprochen oder einen würdigen Abschied bereitet, der Nawalnys Bedeutung angemessen wäre.

Am beeindruckendsten seien die Gläubigen gewesen, die auf der Straße in der Warteschlange die liturgischen Gesänge angestimmt hätten, nachdem der Kirchenchor im Gottesdienst nicht habe singen dürfen. Darin sieht Elsner ein „starkes Zeichen für die Religiosität, die es alternativ zur politischen Kirchenleitung und zur institutionalisierten Kirche gibt“.

Gleichzeitig habe die Menschenmenge „Alexej“, „Nawalny“ oder „Wir werden nicht vergeben“ und „Russland wird frei sein“ gerufen. Das sei ein zivilgesellschaftliches Statement und ein Zeichen der Solidarisierung der Gesellschaft gewesen. „Die Kirche steht hier eindeutig auf der Seite der Macht; sie bietet keinen Anhaltspunkt für diese Sehnsucht nach Freiheit und Widerstand“, so die Theologin.

Ein rein formeller Ritus komme der Kirche und dem Regime sehr entgegen, betonte Elsner. Die Staatsführung müsse auch nicht fürchten, dass die Gemeinde für die vielen Trauernden einen Schutzraum anbiete, wenn die Polizei mit Gewalt durchgreifen sollte.

Das orthodoxe Moskauer Patriarchat hatte sich weder zu Nawalny noch zu den Umständen seiner Haft oder seinem Tod geäußert. Laut der Theologin versucht die Kirchenleitung damit zum einen, den Anschein zu erwecken, man halte sich aus der Politik raus. Zum anderen signalisiere das eine Nähe zum Staat. Bei den Gläubigen sehe das teils anders aus.

„Nawalny selbst hat gerade nach seiner Verhaftung sehr stark mit biblischen Texten und der christlichen Ethik argumentiert in seinen Gerichtsworten und Nachrichten aus der Haft“, so Elsner. In der Gesellschaft habe sich daran eine Diskussion entzündet, wie christlich er eigentlich sei. Daran könne man gut die generellen Strömungen erkennen: auf der einen Seite eine formalisierte Kirchlichkeit, wo es um rituellen Kirchbesuch und Gehorsam gehe; auf der anderen Seite ein christliches Ethos, das sich im alltäglichen Umgang mit dem totalitären System und den Mitmenschen zeige.

Gerade unter den Gläubigen, die von der offiziellen Kirche wegen der Legitimierung des Krieges enttäuscht seien, stelle Nawalny eine Alternative glaubwürdiger Gläubigkeit dar, so Elsner. Von ihnen werde der Kreml-Kritiker „jetzt sogar als Märtyrer“ bezeichnet. „Der Kirchenleitung ist das alles natürlich nicht recht, darum versuchen sie, Nawalny vollständig zu ignorieren.“