Theologe: „Thomas von Aquin ist nie aus der Mode gekommen“

Zum 750. Todestag des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin (1225-1274) erinnert auch der Dominikanerorden an den berühmten Mitbruder. Dass sich die Existenz Gottes beweisen lasse, glaubt der Dominikaner und Sozialethiker Thomas Eggensperger zwar nicht. Warum er Thomas von Aquins sogenannte „Gottesbeweise“ dennoch inspirierend findet, erläutert der Theologieprofessor im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Eggensperger lehrt in Berlin am „Campus für Theologie und Spiritualität“ und leitet das theologische Forschungsinstitut der Dominikaner, Marie-Dominique Chenu in Berlin. Zudem ist er Schriftleiter der „Deutschen Thomas-Ausgabe“, einer kommentierten Übersetzung des Hauptwerks des Thomas von Aquin, der „Summa Theologiae“.

epd: Herr Eggensperger, wie gut lässt sich die Theologie des Thomas von Aquin mit modernem Denken vereinen?

Eggensperger: Thomas ist ein Theologe des Mittelalters, diese Kluft können wir nicht einfach überspringen. Dennoch ist sein Verständnis von der menschlichen Vernunft (lateinisch: ratio) von der autonomen Vernunft eines Immanuel Kant gar nicht so weit entfernt. Das erklärt, warum Thomas in der Zeit der Aufklärung wieder plausibel wurde. Tatsächlich lesen sich manche Stellen so, als hätte Kant sich von Thomas inspirieren lassen.

epd: Gilt Kant nicht gerade als Zertrümmerer der Gottesbeweise, wie sie Thomas gelehrt hat?

Eggensperger: Erst Kant sprach von „Gottesbeweisen“. Thomas hat keine Beweise vorlegen wollen. Er spricht vielmehr von „Wegen“. Mit seinen „fünf Wegen“ zeigt er fünf Möglichkeiten auf, durch vernünftige Rückschlüsse von der Erfahrung der sinnlich wahrnehmbaren Dinge auf die Existenz Gottes zu kommen. Dabei fragt er beispielsweise nach dem ersten Beweger oder nach der ersten Ursache. Alles wird durch etwas bewegt, und alles hat eine Ursache. Aber denkt man dies weiter, fragt man sich, ob es nicht etwas gibt, das bewegt, nicht aber selbst wieder von etwas bewegt wird, das verursacht, aber selbst auf keine andere Ursache zurückführbar ist. Der Erstbeweger oder die Erstursache wird dann Gott genannt. Ich finde es sehr spannend, diese Denkrichtung zu studieren und mir methodisch anzueignen.

epd: Noch immer leidet Thomas‘ Ruf darunter, dass katholische Theologen ihn Ende des 19. Jahrhunderts gegen die Moderne in Stellung gebracht haben, allen voran Papst Leo XIII. Zu Recht?

Thomas Eggensperger: Der Neuthomismus war der Versuch, mit der Moderne umzugehen. Thomas‘ Theologie räumt der Vernunft einen hohen Rang ein. Sie eignet sich daher, christliches Denken ins Gespräch mit der nichtchristlichen Philosophie und Geisteswissenschaften zu bringen – viel mehr als eine Theologie, die den Glauben oder die Offenbarung ins Zentrum rückt. Aus heutiger Sicht mutet das Verfahren der Neuthomisten recht apologetisch an. Sie haben oftmals versucht, in Absetzung zu allen möglichen Zeitströmungen die Wahrheit ihrer theologischen Positionen zu beweisen. Thomas wäre erstaunt gewesen, wenn er gesehen hätte, wie er von einigen zum Maßstab der Wahrheit gemacht wurde.

Thomas hat sowohl mit der Theologie als auch mit dem in seiner Zeit wiederentdeckten griechischen Philosophen Aristoteles das fruchtbare Wechselverhältnis von Glaube und Vernunft aufgezeigt. Damit hat er einseitigen Dogmatismus und Fundamentalismus entgegengewirkt. Auch deshalb, nicht nur, weil sein Werk im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder in den Rang einer katholischen Lehrnorm gehoben wurde, kann man sagen, dass Thomas eigentlich nie aus der Mode gekommen ist.

epd: Außer bei den Protestanten. Warum sahen evangelische Theologen in Thomas lange ihren Hauptgegner?

Eggensperger: Das theologische Konzept einer Rechtfertigung allein aus dem Glauben, wie sie Martin Luther verfocht, passte nicht zu Thomas, bei dem ein Glaube ohne Liebe, also ohne praktisches Handeln, zwar möglich, aber keine Tugend mehr ist. Auch lässt sich Luthers pessimistisch anmutende Sündentheologie nicht mit der harmonisierenden Konzeption des Thomas vereinbaren, bei dem Sünde in unterschiedlichen Graduierungen schlichtweg menschlich ist und das Ringen mit ihr zur menschlichen Natur gehört.

Bei allem Respekt gegenüber der thomasischen Theologie sah Martin Luther in dem Dominikaner schlussendlich den Repräsentanten einer klassischen „römischen“, das heißt päpstlichen Theologie, mit der er reformatorisch haderte. Dieses Feindbild verfestigte sich in der evangelischen Theologie weiter bis hin zum reformierten Theologen Karl Barth (1886-1968), der neuerlich versuchte, die Offenbarung über die Vernunft zu stellen. Das allerdings ist mit Thomas nicht zu machen.

epd: Sie sind Sozialethiker. Welche Rolle spielt Thomas‘ Theologie auf diesem Gebiet?

Eggensperger: Zur Zeit Luthers, an der Wende zum 16. Jahrhundert, war in Spanien und Italien eine große Thomas-Renaissance im Gange. Gleichzeitig forderte die spanische Krone eine ethische Debatte angesichts der Gräueltaten, die spanische Siedler an der indigenen Bevölkerung der neu eroberten Gebiete in Amerika verübten. Die Krone betrachtete „Westindien“ als zusätzliche Provinz, die mit allen Rechten und Pflichten ausgestattet war wie in Europa. Die spanischen Siedler hingegen interessierten sich wenig für die Auflagen der Behörden. Die theologische „Schule von Salamanca“ forderte einen humanen Umgang mit den Ureinwohnern, unter Rückgriff auf thomasisches Denken. Ein Vertreter dieser Schule, Francisco de Vitoria, bezog sich dabei vor allem auf den Gerechtigkeitstraktat in der „Summa Theologiae“. Er gilt heute als Vater des modernen Völkerrechts. Auch Bartolomé de Las Casas, Vorkämpfer der Rechte der amerikanischen Ureinwohner und Bischof von Chiapas im heutigen Mexiko, bezieht sich in seinem Werk auf Thomas und dessen Klugheitskonzept.

Die Ethik des Thomas wirkte im 20. Jahrhundert auch in Debatten über das Verhältnis von Gemeinwohl und dem Wohl des Einzelnen nach. Hier neigt Thomas deutlich dazu, die Gemeinschaft dem Individuum überzuordnen. Es erscheint, mit Abstand betrachtet, heute naheliegend, sowohl der Gemeinschaft als auch dem Einzelnen jeweils einen Platz einzuräumen und das Verhältnis nicht im Sinne einer Über- oder Unterordnung, sondern eher qualitativ korrelativ zu betrachten und ein Zusammenspiel der Wohle anzunehmen.

epd: Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin wird an Thomas‘ Sterbeort, im Kloster Fossanova, eine Messe mitfeiern. Sollte der Vatikan mehr tun, um das Jubiläum zu würdigen?

Eggensperger: Ja, ich würde mir schon wünschen, dass der Heilige Stuhl mehr daraus macht. Immerhin finanziert der Vatikan ja immer noch die „Commissio Leonina“. Die Kommission war 1880 vom „Sozial-Papst“ Leo XIII. eingesetzt worden, um das Werk des Thomas kritisch zu edieren. Unter den Päpsten war zuletzt aber nur Johannes Paul II. wirklich mit Thomas vertraut. Benedikt XVI. hat sich weniger für ihn interessiert, und Franziskus versteht sich ohnehin nicht als Wissenschaftler.