epd: Wenn von der Seele gesprochen wird, scheint oft nicht ganz klar, was eigentlich gemeint ist. Die Psyche? Ein unsterbliches Ich? Etwas Göttliches? Was ist die Seele nach christlichem Verständnis?
Wolfgang Reinbold: Die Antwort darauf ist alles andere als eindeutig. In der Bibel gibt es nämlich keine ausgeformte Lehre von der Seele, weder im Alten noch im Neuen Testament. Der biblische Kernsatz zum Thema steht am Beginn der zweiten Schöpfungsgeschichte. Dort heißt es nach der Übersetzung der Lutherbibel: „Da machte Gott der Herr den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.“
Nun werden Sie wahrscheinlich fragen, wo hier von der Seele die Rede ist. Tatsächlich ist das in den heute gebräuchlichen deutschen Bibelübersetzungen nicht mehr sichtbar. Im hebräischen Original heißt es: „Und es wurde der adam le-nefesch chaja“. Das bedeutet: Adam – das ist der von der Erde genommene Mensch – wird durch den göttlichen Geist zu einem „lebendigen Wesen“. Oder eben zu einer „lebendigen Seele“. Das heißt: Erst durch den göttlichen Geist wird der von der Erde genommene Mensch zu einem Lebewesen. Das heiß also: Er „hat“ keine Seele, sondern er „ist“ Seele!
epd: Ist meine Seele also aus christlicher Perspektive schlicht das, was wir das „Ich“ nennen?
Reinbold: Nicht ganz. Aber es gibt viele Überschneidungen zwischen den beiden Konzepten. Wichtig ist zunächst, dass die Seele in der Regel nicht ohne den Körper gedacht wird, wie das im Anschluss an den antiken Philosophen Platon und das Konzept der im Gegensatz zum Körper unsterblichen Seele häufig geschehen ist. Wie gesagt: In der Bibel hat der Mensch keine Seele, er ist eine!
Im Übrigen würde ich es etwa so formulieren: Als „Seelen“ empfinden wir uns als Individuen, die ein Bewusstsein ihrer selbst haben. Das ist, wenn ich es recht sehe, in naturwissenschaftlicher Hinsicht ja durchaus erklärungsbedürftig: Wie kann es sein, dass ich mich als ein „Ich“ verstehe, obwohl meine Körperzellen alle paar Jahre ausgetauscht werden und ich, streng materiell betrachtet, mit 60 also keineswegs mehr derselbe bin wie mit 30 oder 20? Das ist, wenn man näher darüber nachdenkt, doch seltsam. Warum bin ich nicht jeweils ein anderer, wenn meine Zellen andere geworden sind? Gibt es irgendwo ein Zentrum, das sich nicht verändert?
Darauf lässt sich christlich antworten: Ja, in der Tat, dieses unveränderliche Zentrum existiert. Und zwar deshalb, weil ich eine lebendige Seele bin und weil diese Seele ihr Leben unmittelbar Gott verdankt.
epd: Heißt das, dass die Seele aus christlicher Perspektive also nicht unsterblich ist?
Reinbold: Es gibt im Christentum sehr unterschiedliche Meinungen zu dieser Frage. Sie hängen nicht zuletzt davon ab, welchem philosophischen Konzept man den Vorrang gibt. Aus meiner Sicht lässt sich das klassische Konzept des Platon nicht mit den biblischen Kernaussagen verbinden.
Besonders deutlich wird das in einer Bibelstelle, in der der Apostel Paulus sich Gedanken über die Auferstehung macht. Man könnte vermuten, dass er dort etwa sagt: Der Leib stirbt, die unsterbliche Seele wird ewig leben. Diesen einfachen Schluss aber vermeidet er und besteht darauf, dass auch die Auferstandenen einen „Leib“ haben. Am Ende bringt er es auf die metaphorische Formel: „Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib.“
epd: In vielen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen ist es verbreitet, nach Eintritt des Todes eines Patienten das Fenster zu öffnen, damit die Seele entweichen kann. Woher kommt die Vorstellung, dass sich die Seele nach dem Tod sozusagen selbstständig macht?
Reinbold: Dieses Bild ist uralt und tief in unserer Kultur verankert. Mir fällt dazu zuerst die griechische Mythologie ein: Nach dem Tod geleitet Hermes, der Götterbote, die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt. Ähnliche Vorstellungen gibt es in vielen Religionen und Kulturen.
Das hängt sicher auch damit zusammen, dass wir beim Tod eines Menschen die Erfahrung machen: Er sieht genauso aus wie zuvor. Aber das Leben ist aus ihm herausgegangen. Er hat, wie wir sagen, „den Geist aufgegeben“. Und da liegt es dann natürlich nahe, zu sagen: Der Geist – oder eben die Seele – ist aus ihm entwichen.