Theateradaption “Die Ermittlung” zum ersten Auschwitzprozess
Peter Weiss’ Theaterstück “Die Ermittlung” über den ersten Frankfurter Auschwitzprozess 1963-1965 war fast vergessen. Eine neue filmische Adaption setzt die Unaussprechlichkeit von damals nun eindrucksvoll in Szene.
Was auch immer RP Kahl dazu bewogen haben mag, den fast vergessenen, formal strengen Theater-Klassiker “Die Ermittlung” von Peter Weiss in der von ihm gewählten, dem Thema angemessenen Form gerade jetzt zu verfilmen – ihm ist damit jedenfalls der Film der Stunde gelungen. Ein Glücksfall, der einerseits (ob gewollt oder nicht) die Täterperspektive von “The Zone of Interest” ergänzt, dabei aber ganz auf die durch Sprache entstehenden Bilder in den Köpfen des Publikums vertraut. Und andererseits dank der gewählten theatralen Strenge auch die Untiefen des clever formulierten Geschwurbels von den ideologisch verseuchten Bildern des NS-Regimes von “Führer und Verführer” vermeidet.
Das Stück mit dem Untertitel “Oratorium in 11 Gesängen”, von Peter Weiss aus dem subjektiven Bedürfnis geschrieben, die Konzentrationslager und wie es dazu kommen konnte, zu verstehen, ist dabei zugleich auch ein fesselnder Sprung zurück an den Beginn der bundesdeutschen Erinnerungskultur zum Holocaust: dem ersten Frankfurter Auschwitzprozess, der von Dezember 1963 bis August 1965 stattfand. Das Material, dessen er sich dafür bediente, stammt zu großen Teilen aus der damaligen Prozess-Berichterstattung in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung”, ergänzt um weitere Quellen und wissenschaftliche Literatur, allerdings sehr konzentriert.
Weiss hatte seine Arbeit noch vor der Urteilsverkündung im August 1965 abgeschlossen; die Uraufführung von “Die Ermittlung” fand am 19. Oktober 1965 in 15 Theatern gleichzeitig statt. Wichtig war Peter Weiss die Perspektive seines Stücks, die durch den Titel charakterisiert ist: “Das Konzentrationslager selbst kommt in meinem Stück nicht vor; wir blicken darauf zurück wie diejenigen, die an den tatsächlichen Verhandlungen teilnahmen, aus der Perspektive der Gegenwart.” Es geht also in der “Ermittlung” um eine Recherche vor dem Hintergrund des damals, Mitte der 1960er-Jahre aktuellen Holocaust-Diskurses, weshalb das Schlusswort des Stücks auch nicht von der Justiz, sondern von einem reuelosen Angeklagten gesprochen wird: “Heute / Da unsere Nation sich wieder / Zu einer führenden Stellung / emporgearbeitet hat / Sollten wir uns mit anderen Dingen befassen / Als mit Vorwürfen / Die längst als verjährt / angesehen werden müssten.”
RP Kahl hat das Theaterstück nicht als verfilmtes Theater oder als Adaption des Weiss-Textes, sondern als eine Art filmischer Installation umgesetzt. Gedreht wurde mit mehreren beweglichen Kameras in einem Studio, die Angeklagten sitzen auf einer Seite, die Zeugen treten vor ein Mikrofon und machen ihre Aussagen. Dazu noch der Richter (Rainer Bock), der Staatsanwalt (Clemens Schick) und der Verteidiger (Bernhard Schütz) – ein kompaktes Setting, das dennoch reichlich Raum für Beobachtungen eröffnet.
Die Zahl der auftretenden Zeugen hat Kahl gegenüber der Vorlage von 9 auf 39 Darsteller erweitert und hochkarätig besetzt (unter anderem mit Nicolette Krebitz, Christiane Paul, Sabine Timoteo, Marek Harloff, Andre M. Hennicke, Karl Markovics, Tom Wlaschiha, Robert Hunger-Bühler. Gleiches gilt für die 18 Angeklagten mit unter anderem Wilfried Hochholdinger, Niels-Bruno Schmidt, Thomas Dehler, Timo Jacobs.
Kameras und auch die Montage sind “neugierig” und setzen ihrerseits Akzente und fixieren Haltungen. Dass es im Frankfurter Auschwitzprozess um den Nachweis konkreter Tatbeteiligungen geht, führt zu einer Spannung zwischen der kaum zu ertragenden Ungeheuerlichkeit der Zeugenaussagen und der Strategie der Angeklagten – längst wieder in der bürgerlichen Gesellschaft integriert und etabliert – nichts gewusst, nichts gesehen, nichts gehört zu haben, kurz: nicht beteiligt gewesen zu sein. Was gerne auch höhnisch vorgetragen wird. Früh wurde darauf hingewiesen, dass “Die Ermittlung” mustergültig dokumentiert, dass der Prozessablauf in Frankfurt strukturell die Auschwitz-Konstellation der barbarischen Verhöhnung der Opfer wiederhole.
Weil sich Kahl entschieden hat, Weiss’ Text unverändert zu übernehmen, schmuggelt er als Konterbande auch die Haltung des marxistischen Autors in den Film, der zufolge vom Faschismus nicht reden könne, wer vom Kapitalismus schweige. Eine Haltung, die im Diskurs von 1965 auf erhebliche Resonanz stößt, wenn die Namen bedeutender industrieller Komplexe fallen, die von der Sklavenarbeit in den Konzentrationslagern profitiert haben und sich nach 1945 rasch umbenannten, so dass aus der IG Farben die BASF, Hoechst und Bayer wurden. Derlei “segensreiche Freundschaft zwischen der Lagerverwaltung und der Industrie” wird seitens der Verteidigung wiederholt als “Diffamierung” zurückgewiesen.
Weil es Peter Weiss aus seiner Perspektive auch um ein Machtgefüge geht, dass das Ausagieren von Machtverhältnissen von oben nach unten ermöglicht, also um ein zutiefst negatives und destruktives Menschenbild, fehlt in “Die Ermittlung” – auch früh bemerkt – das Wort “Jude”, wiewohl es in den Prozess-Notizen der “FAZ” wiederholt vorkommt. Bei Weiss wird der Holocaust als Verbrechen gegen die Menschheit verhandelt, als ein System, das prinzipiell überall etabliert werden kann, wo die strukturellen Bedingungen fortdauern.
Man kann hier an das Diktum Walter Benjamins denken, demzufolge der Ausnahmezustand die Regel sei, worauf die Vorstellung von Geschichte als Fortschrittsgeschichte zu reagieren habe, um dem Staunen über die Möglichkeit des Faschismus etwas Produktives entgegensetzen zu können. Genau hierin liegt das Produktive des von Kahl im Rekurs auf Weiss unternommenen Tigersprungs aus der Geschichte zurück zu den Anfängen einer Erinnerungskultur, die sechzig Jahre später beim Diskursmoment “Täter, menschlich gesehen” gelandet ist. Hier setzt die notwendige Korrektur der Wiedervorlage der “Ermittlung” als ganz und gar umwerfendes “Rerun” des Abgründigen, des Unaussprechlichen, des von rechten Geschichtsklitterern so unsäglich Kleingeredeten ein.