Tartu in Estland ist Europas Kulturhauptstadt 2024

Man sah es einst als das Heidelberg Estlands: eine grüne Studentenstadt am Fluss, mit einer Leichtigkeit des Seins und doch von morbider Melancholie. Voila: Tartu (dt.: Dorpat), Europas Kulturhauptstadt 2024. Ein Rundgang.

Für den deutschbaltischen Historiker Georg von Rauch (1904-1991), der ab 1922 selbst dort studierte, war die Sache klar: „Die Stadt sank im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche, ähnlich wie 1558 bis 1708. Mag sich auch jetzt wieder neues Leben an der alten Stätte regen: die Wirkungskräfte des ehemaligen genius loci sind schwer zu erkennen. Auch für das estnische Volk ist die Überlieferung der 1920er und 30er Jahre eine gebrochene. Der Geist der Universität Dorpat mit seiner Synthese christlicher und humanistisch-idealistischer Werte erscheint als tragende geistige Kraft einer abgeschlossenen historischen Epoche.“

Wer heute durch die estnische 93.000-Einwohner-Stadt Tartu spaziert, für den ist der „ehemalige genius loci“ durchaus noch spürbar. Trotz mancher Hinterlassenschaften kommunistischer Tristesse hat Tartu, über viele Jahrhunderte deutsch „Dorpat“ genannt, durchaus beides: die Würde und die Leichtigkeit einer alten europäischen Universitätsstadt.

Als Europas Kulturhauptstadt 2024 hat sich Tartu im Süden Estlands fein herausgeputzt – während die russische Grenze im Peipus-See keine 50 Kilometer entfernt ist. Eine verstörende europäische Realität – die so noch vor einigen Jahren kaum einen Besucher verstört hätte. Schon vor dem bedrohlichen russischen Angriff auf die Ukraine, so versichern die Veranstalter, habe man sich auf den inhaltlichen Schwerpunkt der Kulturjahr-Bewerbung festgelegt: „Ein besseres Leben.“ Ökologie und nachhaltige Technologien stehen im Mittelpunkt; zudem ein Verlassen auf die eigenen Kräfte einerseits – und auf das gemeinsame Netzwerken mit verlässlichen Kreativpartnern.

Und selbstbewusst ist man in der wahrscheinlich ältsten Stadt des Baltikums. Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Ort im Jahr 1030, also vor fast genau 1.000 Jahren. 1224, vor bald 800 Jahren, eroberte der deutsche Schwertbrüderorden die örtliche Burg; und bald entwickelte sich ein Handelsplatz der Hanse.

Hinterlassenschaften dieser früheren Zeit sind zwei gotische Backsteinkirchen: die Domruine, den Stadtpatronen Peter und Paul geweiht, und die Johanniskirche (Jaani kirik), mit ihren einzigartigen mehr als tausend Terrakotta-Skulpturen und dem über 60 Meter hohen Turm die bedeutendste Backsteinkirche Estlands.

Der so schlichte wie monumentale Dom, begonnen wohl Ende des 13. Jahrhunderts, ist nur als geplünderte Ruine mit Turmstümpfen erhalten. Ein Johannisfeuer 1595/96 oder 1624 richtete ein Zerstörungswerk an. Eine (Wander-)Legende besagt, dass schon während der Bauzeit die tagsüber errichteten Mauern so lange einstürzten, bis ein schönes Mädchen als Hüterin der Kirchenschlüssel mit eingemauert wurde. 1806 wurde der Chor der Bischofskirche zur Universitätsbibliothek ausgebaut.

Die traditionelle Holzbebauung der Stadt provozierte immer wieder Brände. 1775 zerstörte ein riesiges Feuer fast die gesamte Innenstadt – weshalb die meisten der heutigen architektonisch attraktiven Gebäude des klassizistischen Altstadtkerns aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen. Beim Wiederaufbau waren nun nur noch Steinbauten gestattet.

Der Mittelpunkt der Stadt, zum Embach (estn. Emajögi = „Mutterfluss“) hin offen, ist der Rathausplatz (Raekoja plats) mit den wichtigsten öffentlichen Gebäuden: Münze, Waage, Apotheke. Das Rathaus selbst, erbaut 1782-1789 von Johann Heinrich Walther, gehört zu den schönsten frühklassizistischen Bauten des Landes. Mit seinem Walmdach mit Uhrturm, einem Dreiecksgiebel, Ovalfenster und korinthischen Kapitellen knüpft es an Traditionen niederländischer Stadtpalais an.

An der Nordseite, mit der Hausnummer 6, ein Haus mit besonderer Geschichte: Das sogenannte Alte Universitätsgebäude von 1789 gehörte dem polnisch-estnischen Baron Otto Reinhold Ludwig von Ungern-Sternberg, einer tragischen Figur: Der Baron erschlug 1802 einen britischen Offizier, verlor seinen Adelstitel und wurde nach Sibirien verbannt. Das Haus in Tartu wurde später an die Universität verkauft.

Nummer 18, das sogenannte Barclay-Haus von 1793, war einst im Besitz der Gemahlin des russischen Heerführers Fürst Michael Barclay de Tolly, dem Bezwinger Napoleons vor Moskau. Durch eine Bodenabsenkung auffällig schief, beherbergte es lange die alte Brücken-Apotheke.

Quasi ein zweites Zentrum der Stadt bildet das Universitätsviertel. Nach der Neugründung der Universität 1802 – als einzige deutschsprachige Universität des Russischen Zarenreiches – integrierte Baumeister Johann Wilhelm Krause (1757-1828) die Gebäude in eine großzügige Parkanlage. Auf dem Bauplatz des klassizistischen Hauptgebäudes (1804-1809) stand zuvor die im Nordischen Krieg zerstörte mittelalterliche Marienkirche. Allerdings mussten erst die Reste des Gotteshauses beseitigt und 5.000 Langholzpfähle in den sumpfigen Boden eingerammt werden. Schönster Raum ist die prächtige zweistöckige Aula.

Die Universität – bis heute ist sie die einzige Volluni des Landes – wurde prägend für das Stadtbild, nachdem das der Hanse- und Handelsstadt Dorpat inzwischen weitgehend verblasst war. Fortan sprach man von einem „nordischen Heidelberg“ oder gar vom „Embach-Athen“.

Allerdings verlor Dorpat seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr seine Prägung durch die deutschbaltische Elite. Waren 1867 noch 46 Prozent der Bevölkerung Esten und 42 Prozent Deutsche, änderte sich das Verhältnis nach einer Russifizierung in den 1880er Jahren bis 1922 schon in 84 zu 6 Prozent. Seit der ersten estnischen Unabhängigkeit nach dem Ersten Weltkrieg, als Estnisch Amtssprache wurde, heißt die Stadt Tartu.

Tartu heute ist nicht groß. Besucher kommen hier gut zu Fuß oder mit dem Rad von A nach B. Sie finden eine junge Studentenstadt mit einer bunten Gastronomie-Szene vor: traditionsreiche Debattiercafes wie das „Werner“ ebenso wie klassische Studentenkneipen. Aber es gibt auch das andere, das moderne Tartu. Auf dem Gelände eines ehemaligen großen sowjetischen Luftwaffenstützpunktes wurde vor einigen Jahren das beeindruckende neue estnische Nationalmuseum gebaut – mitten in die Flucht der einstigen Landebahn hinein.